Wenn der Körper nicht gehorcht
Auch vermeintlich einfache Bewegungen entstehen durch ein kompliziertes Zusammenspiel von Muskeln, Nerven und Teilen des Gehirns. Die zahlreichen motorischen Störungen, unter denen Menschen leiden, zeigen, wie viel dabei schief gehen kann.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Jörn Munzert
Veröffentlicht: 30.11.2011
Niveau: mittel
- Bei der Planung und Ausführung von Bewegungen kann es zu zahlreichen Störungen kommen.
- Zu den häufigsten Störungen gehören Lähmungen durch Verletzungen des Rückenmarks. Die Höhe, auf der die Verletzung passiert, entscheidet darüber, wie viele Muskeln gelähmt sind.
- Bei anderen Erkrankungen wie Parkinson oder Verletzungen im Kleinhirn gerät die fein austarierte Balance von Erregung und Hemmung im Gehirn aus dem Gleichgewicht und es kommt zu unsicheren oder gehemmten Bewegungen.
Zu tanzen, zu schwimmen, über Hürden zu springen oder eine Pirouette auf dem Eis zu drehen, das gehört zu den Fähigkeiten des menschlichen Körpers, die vielen Menschen Respekt abverlangen. Aber auch für vermeintlich ganz einfache Bewegungen benötigt man eine ungeheure Koordination – selbst wenn die meisten Menschen sich das nicht bewusst machen, wenn sie zum Beispiel gehen oder ein Trinkglas hochheben.
Eine Bewegung wird zunächst im Frontallappen geplant, genauer: im prämotorischen Cortex und dem so genannten supplementär-motorischen Areal. Die eigentliche Ausführung wird dann in einem anderen Bereich der Hirnrinde, dem motorischen Cortex, initiiert. Von dort werden die Befehle über Nervenfasern im Rückenmark an die Muskeln gesendet, welche die Bewegungen ausführen. Dabei werden die Muskeln ständig durch das Kleinhirn überwacht, das geplante und tatsächliche Bewegung vergleicht – und unter Umständen korrigierend eingreift. Auch die Basalganglien sind in die Bewegungskontrolle involviert. Wer kleine Kinder beobachtet, die lernen auf ihren eigenen Beinen zu stehen und mit ersten ungelenken Schritten herumtapsen, ahnt, wie groß diese Leistung ist. Menschen mit motorischen Störungen zeigen, wie viel bei diesem komplexen Zusammenspiel von verschiedenen Hirnarealen, Nervenbahnen und Muskeln schief gehen kann.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Basalganglien
Basalganglien/Nuclei basales/basal ganglia
Basalganglien sind eine Gruppe subcorticaler Kerne (unterhalb der Großhirnrinde gelegen) im Telencephalon. Zu den Basalganglien zählen der Globus pallidus und das Striatum, und je nach Autor weitere Strukturen, wie z. B. die Substantia nigra und der Nucleus subthalamicus. Die Basalganglien werden primär mit der Willkürmotorik in Verbindung gebracht, beeinflussen aber auch Motivation, Lernen und Emotion.
Lähmungen können viele Ursachen haben
Zu den häufigsten motorischen Störungen gehören Lähmungen, bei denen Betroffene einzelne Muskeln, Körperteile oder den ganzen Körper nicht mehr bewegen können. Viele Lähmungen werden durch Verletzungen des Rückenmarks verursacht. Eine der schwersten und bekanntesten Formen ist die Querschnittslähmung, die in Deutschland jedes Jahr bei etwa 1000 Menschen auftritt. Dabei wird – meist durch einen Unfall – die Wirbelsäule so stark geschädigt, dass die Nervenfasern, die darin verlaufen, durchtrennt oder gequetscht werden und die Signale aus dem Gehirn nicht länger zu den Muskeln weitergeleitet werden können.
Je nachdem auf welcher Höhe diese Unterbrechung geschieht, sind Patienten unterschiedlich stark gelähmt. „Je höher in der Wirbelsäule die Verletzung liegt, desto mehr Muskeln sind von der Lähmung betroffen“, sagt Gabriel Curio, Neurologe an der Charité, dem Berliner Universitätsklinikum. So bedeutet ein Querschnitt unterhalb von C4, dass der vierte der sieben Wirbelkörper der Halswirbelsäule noch intakt ist. So ein Patient kann das Zwerchfell noch steuern und damit seine Atmung. Liegt die Verletzung weiter oben, also zum Beispiel auf Höhe des zweiten Halswirbels, muss der Patient künstlich beatmet werden. Patienten, bei denen ein Brustwirbel verletzt ist, können auch ihre Arme und Hände bewegen, haben aber Probleme bei der Bewegung des Oberkörpers, weil sie keine Kontrolle über ihre Bauchmuskeln haben.
Neben Unfällen können auch Bandscheibenvorfälle zu solch einer Lähmung führen. Bandscheiben dienen als Puffer zwischen den Wirbelkörpern, erklärt Curio. „Wenn die zu stark gequetscht werden, kann es sein, dass das bindegewebige Band, das um die Scheibe läuft, reißt und die gallertige Masse darin zur Seite rutscht.“ Dann wird der Nerv eingeklemmt und kann ebenfalls die Reize aus dem Gehirn nicht weiterleiten.
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Kinderlähmung durch Polioviren
Auch die Kinderlähmung (Polio) ist auf Veränderungen im Rückenmark zurückzuführen. In diesem Fall wandern Polioviren in jene Nervenzellen des Rückenmarks, welche die Muskeln steuern. Die Immunabwehr des Körpers führt dazu, dass diese Zellen zerstört werden, und die Patienten die Fähigkeit verlieren, die jeweiligen Muskeln zu steuern. Oft sind hierbei die Beine betroffen.
Auch außerhalb des Rückenmarks kann es zu Veränderungen kommen, die eine Lähmung verursachen, zum Beispiel bei Myasthenia gravis. Das ist eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor auf Muskelzellen bildet. Acetylcholin ist der Botenstoff, mit dem die Nervenzellen ihre elektrische Erregung auf die Muskelzelle übertragen. Sind die Rezeptoren durch die Antikörper besetzt, kann die Nervenzelle die Muskelzelle nicht erregen, die Kontraktion der Fasern bleibt aus. Etwa in der Hälfte der Fälle macht sich das zuerst an den Augen bemerkbar, weil die Augenlider nicht mehr hochgehalten werden können.
Ein besonders häufiger Grund für Lähmungen sind Schlaganfälle. Dabei sterben Nervenzellen im Gehirn, die wegen einer Blutung oder einer verstopften Arterie über längere Zeit nicht mit Sauerstoff versorgt wurden. Passiert das im motorischen Cortex, also dem Teil der Hirnrinde, in dem Bewegungen gesteuert werden, kann es zu Lähmungen im Gesicht, in Armen oder Beinen oder sogar zu einer Lähmung einer ganzen Körperhälfte, der so genannten Hemiparese, kommen.
Acetylcholin
Acetylcholin/-/acetylcholine
Acetylcholin ist einer der wichtigsten Neurotransmitter des Nervensystems. Im zentralen Nervensystem ist es an Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis beteiligt, im peripheren Nervensystem überträgt es die Erregung von Nerven auf Muskeln an den neuromuskulären Endplatten und steuert Prozesse des autonomen Nervensystems, also des sympathischen und parasympathischen Teils. Bereiche, in denen Acetylcholin als Botenstoff wirkt, werden cholinerg genannt. Es war der erste entdeckte Neurotransmitter, nachgewiesen 1921 von Otto Loewi am Herzen eines Frosches.
Unsichere Bewegungen
Neben Lähmungen können auch andere motorische Störungen durch Schlaganfälle ausgelöst werden. Charakteristisch sind etwa Verletzungen des Kleinhirns, die zu einer Ataxie führen: Problemen bei der Koordinierung von Bewegungen. Typisch dafür sind Schwierigkeiten, mit dem Finger die eigene Nasenspitze zu berühren, undeutliche Sprache und ein schwankender Gang. Dass diese Symptome genau die sind, die auch bei Trunkenheit auftreten, ist kein Zufall: Alkohol kann die Aktivität von Nervenzellen auch in Teilen des Kleinhirns senken.
Ein anderes Phänomen der Ataxie, das der Neurologe Joseph Babinski bereits 1899 beschrieben hat, wird als Dysdiadochokinese bezeichnet. Damit beschreiben Ärzte die Unfähigkeit, schnell nacheinander und abwechselnd zwei verschiedene Bewegungen auszuführen. So sind Patienten, die die Hand abwechselnd in eine und dann in die andere Richtung drehen sollen, nicht in der Lage, dabei in einem Rhythmus zu bleiben.
Für die Parkinsonsche Erkrankung, eine der häufigsten Bewegungsstörungen überhaupt, sind die drei Merkmale Ruhetremor, Rigor und Akinese typisch: Zittern, Muskelstarre und Bewegungsarmut. Teilweise treten auch Schwierigkeiten mit der Bewegungsinitialisierung beim Gehen auf. Ursache der Erkrankung ist der Tod von Nervenzellen in der Substantia nigra, einer Substruktur der Basalganglien. Dies führt zu einer massiven Reduktion des Dopaminspiegels im Striatum, einer weiteren Substruktur der Basalganglien. Ohne das Dopamin gerät die Regulierung der Hirnaktivität aus dem Gleichgewicht. Einige Zellen werden zu stark aktiviert, andere nicht genug. Dann werden auch ganz einfache Bewegungen zu einer kaum zu meisternden Herausforderung: zu gehen oder zu rennen etwa, Dinge anzufassen, aufzuheben, festzuhalten. Teilweise ist auch das Sprechen und Schlucken betroffen.
Ataxie
Ataxie/-/ataxia
Ein medizinischer Überbegriff für die Störung oder den Verlust der Bewegungskoordination. Bei einer Zielataxie beispielsweise kann ein gezielter Griff zu einem Gegenstand langsam, verwackelt oder zu schnell erfolgen. Ataxien können angeboren oder Folge von Läsionen oder Degeneration sein.
Basalganglien
Basalganglien/Nuclei basales/basal ganglia
Basalganglien sind eine Gruppe subcorticaler Kerne (unterhalb der Großhirnrinde gelegen) im Telencephalon. Zu den Basalganglien zählen der Globus pallidus und das Striatum, und je nach Autor weitere Strukturen, wie z. B. die Substantia nigra und der Nucleus subthalamicus. Die Basalganglien werden primär mit der Willkürmotorik in Verbindung gebracht, beeinflussen aber auch Motivation, Lernen und Emotion.
Dopamin
Dopamin/-/dopamine
Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.
zum Weiterlesen:
- Berg, S.: Zitterpartie. Eine Erzählung. Chrismon, 2011.