Schnellstraße durchs Rückenmark

Grafik: Meike Ufer
Ausführung Bewegung

Bewegungen werden zu großen Teilen vom Gehirn gesteuert. Damit diese motorischen Befehle auch ausgeführt werden, müssen sie zu den Muskeln gelangen. Diese Aufgabe übernehmen spezialisierte Nervenbahnen im Rückenmark — unsere motorischen Autobahnen.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Hansjörg Scherberger

Veröffentlicht: 01.09.2011

Niveau: mittel

Das Wichtigste in Kürze
  • Mehrere motorische Leitungsbahnen ziehen vom Gehirn ins Rückenmark und dort nach unten. Über diese absteigenden Rückenmarksbahnen kommunizieren die Bewegungszentren der Hirnrinde mit den Muskeln.
  • Bei Primaten ist die Pyramidenbahn für willkürliche Bewegungen und insbesondere für Feinmotorik von Händen und Fingern zuständig. Dies macht sie zur wohl wichtigsten motorischen Bahn des Menschen.
  • Im Rückenmark ist die Pyramidenbahn entweder direkt oder über Interneurone mit den Motoneurone verschaltet, die motorische Signale an die Muskeln weitergeben und diese kontrahieren lassen.
  • Die ventromedialen Bahnen kontrollieren das Gleichgewicht und die Körperhaltung. Die damit verbundenen Muskelbewegungen erfolgen in der Regel unbewusst.
Wenn Motoneurone lahmgelegt werden: Das Pfeilgift Curare

Für die Kontraktion von Muskeln sorgen die Motoneuronen im Rückenmark. Die Fortsätze der Motoneurone verbreitern sich an ihrem Ende zu motorischen Endplatten, mit denen sie sich an die Membranen der quergestreiften Muskelfasern anheften. Empfängt ein Motoneuron im Rückenmark zum Beispiel über die Pyramidenbahn das Signal zur Kontraktion, dann setzt die motorische Endplatte so genannte Vesikel frei: kleine Bläschen, die den Neurotransmitter Acetylcholin enthalten. Erreichen die chemischen Botenstoffe die Muskelzelle, docken sie dort an Rezeptoren an und lösen eine elektrische Erregung der Zelle aus, die sich daraufhin kontrahiert.

Das Pfeilgift Curare unterbricht die Kommunikation zwischen Hirn und Muskel auf Höhe der motorischen Endplatte: Die Substanz lagert sich an die Acetylcholinrezeptoren an und blockiert sie. Acetylcholin kann dann nicht mehr an den Rezeptoren andocken und somit auch keine Muskelerregung mehr auslösen, seine Wirkung verpufft quasi im Nichts. Die Folge: Der Muskel kann nicht mehr kontrahieren. Da auch die Atemmuskulatur gelähmt ist, tritt Atemstillstand und schließlich der Tod ein. Südamerikanische Ureinwohner stellen das Pfeilgift aus Rinden und Blättern südamerikanischer Lianenarten her und jagen damit Tiere. Da Curare nicht tödlich wirkt, wenn es über den Magen-Darm-Trakt in den Körper gelangt, ist das Fleisch der erbeuteten Tiere für die Jäger genießbar.

Acetylcholin

Acetylcholin/-/acetylcholine

Acetylcholin ist einer der wichtigsten Neurotransmitter des Nervensystems. Im zentralen Nervensystem ist es an Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis beteiligt, im peripheren Nervensystem überträgt es die Erregung von Nerven auf Muskeln an den neuromuskulären Endplatten und steuert Prozesse des autonomen Nervensystems, also des sympathischen und parasympathischen Teils. Bereiche, in denen Acetylcholin als Botenstoff wirkt, werden cholinerg genannt. Es war der erste entdeckte Neurotransmitter, nachgewiesen 1921 von Otto Loewi am Herzen eines Frosches.

Mit dem linken kleinen Finger das „A“, mit dem rechten Mittelfinger das „I“: Wer lernen will, auf der Computertastatur mit dem Zehnfingersystem zu schreiben, muss fleißig üben. Dass wir unsere Finger und den restlichen Körper überhaupt so schnell und präzise willentlich bewegen können, verdanken wir einer mehrspurigen motorischen Schnellstraße aus unserem Gehirn ins Rückenmark. Durch sie kann das Gehirn blitzschnell Bewegungen initiieren und koordinieren.

Jede willkürliche Bewegung beginnt im Gehirn, genauer: im prämotorischen Cortex. Das ist der Teil der Hirnrinde, der einzelne Bewegungen entwirft und initiiert. Der prämotorische Cortex stimmt das Bewegungsprogramm mit anderen Hirnteilen ab und leitet sein Fazit an den primären Motorcortex weiter, der alle Signale sammelt und in Einzelaufgaben unterteilt. Wie geschickt wir mit einem Körperteil umgehen können, hängt davon ab, wie viele Nervenzellen dort für dieses Körperteil zuständig sind. Die Areale für Hände und Finger sind besonders groß, darum sind wir in der Lage, feine Zeichnungen zu fertigen oder winzige Uhrwerke zu bauen. Doch auch andere Hirnareale sind für Bewegungen, Koordination und Muskeltonus zuständig – insbesondere das Kleinhirn und die Basalganglien.

Die Axone der Nervenzellen aus den motorischen Arealen der Hirnrinde bündeln sich zu verschiedenen Nervenbahnen, die – teils nach einer ersten Verschaltung im Hirnstamm – ins Rückenmark ziehen. Über diese absteigenden Rückenmarksbahnen gelangen die motorischen Befehle also nach unten, hin zu den Muskeln, die sie zur Kontraktion bringen wollen – beim Maschinenschreiben also die Hand– und Fingermuskeln. Diesen letzten Schritt übernehmen die spinalen Motoneurone, Nervenzellen, die aus dem Rückenmark zu den einzelnen Muskeln ziehen. Die absteigenden Rückenmarksbahnen sind also die Schnellstraßen vom Gehirn zum und durch das Rückenmark.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Basalganglien

Basalganglien/Nuclei basales/basal ganglia

Basalganglien sind eine Gruppe subcorticaler Kerne (unterhalb der Großhirnrinde gelegen) im Telencephalon. Zu den Basalganglien zählen der Globus pallidus und das Striatum, und je nach Autor weitere Strukturen, wie z. B. die Substantia nigra und der Nucleus subthalamicus. Die Basalganglien werden primär mit der Willkürmotorik in Verbindung gebracht, beeinflussen aber auch Motivation, Lernen und Emotion.

Laterale und ventromediale Bahnen

Welche Nervenbahn welche Aufgabe hat, lässt sich grob an ihrer Lage im Rückenmark ablesen: Die seitlich im Rückenmark gelegenen lateralen Bahnen mit ihrem wichtigsten Bestandteil – der Pyramidenbahn oder Tractus corticospinalis – sind für willkürliche Bewegungen der Extremitäten verantwortlich, ganz besonders für Hände und Arme, aber auch für Füße und Zehen. Darüber hinaus zählt zu den lateralen Bahnen auch der Tractus rubrospinalis. Er entspringt dem im Mittelhirn liegenden Nucleus ruber und spielt bei der Bewegungskontrolle vieler Säugetiere eine wichtige Rolle. Beim Mensch werden seine Funktionen größtenteils von der Pyramidenbahn übernommen.

Zu den weiter bauchwärts liegenden ventromedialen Bahnen gehören der Tractus vestibulospinalis, der Tractus tectospinalis, der Tractus reticulospinalis medialis und der Tractus reticulospinalis lateralis. Sie haben ihren Ursprung in verschiedenen Regionen des Hirnstamms, steuern die Rumpf- sowie die rumpfnahe Extremitätenmuskulatur und dienen in erster Linie dazu, das Gleichgewicht und die Körperhaltung zu kontrollieren – unter Verwendung von sensorischen Informationen. Gehen wir zum Beispiel eine Treppe nach unten und finden plötzlich eine Stufe mehr vor als erwartet, aktivieren propriozeptive Reflexe über die ventromedialen Bahnen die Muskeln von Hüfte und Oberschenkel, damit wir die plötzliche Lageänderung abfangen und nicht fallen.

Für bewusste Bewegungen insbesondere der Hände und Finger – und damit für Dinge wie Schreiben oder Violine spielen – ist also das pyramidale System mit der Pyramidenbahn zuständig. Das extrapyramidale System mit den ventromedialen Rückenmarksbahnen hingegen übernimmt die meist unbewusst erfolgende Stabilisierung der Körperhaltung.
Wobei beide Systeme eng zusammenarbeiten. Denn nur wenn Kopf, Schulter und Oberarm in einer bestimmten Position stabil gehalten werden, kann die Hand den Bogen so über die Saiten bewegen, dass schlussendlich auch der berühmte Hummelflug von Rimski-​Korsakov ertönt.

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Die Pyramidenbahn als Schnellstraße

Für die ausgeprägten feinmotorischen Fähigkeiten der Hände ist die Pyramidenbahn also die wichtigste motorische Bahn aus dem Gehirn ins Rückenmark. Nur ihr haben wir es zu verdanken, dass wir willkürlich einzelne Finger mit großer Schnelligkeit und Genauigkeit bewegen können. Zwischen ihrer Entwicklung und der für Primaten charakteristischen Geschicklichkeit von Händen und Fingern besteht ein enger Zusammenhang. Anders gesagt: Bei den meisten Tieren ist die Pyramidenbahn nur eine Landstraße, bei den Primaten hingegen eine Autobahn, die eine große Mengen an Information besonders schnell vom Hirn zu den Muskeln bringt. Die Nervenzellen, die den Ursprung der Pyramidenbahn bilden, sind mit ihren Fortsätzen gut ein bis zwei Meter lang und damit ganz und gar nicht mikroskopisch klein − wie man das von Zellen oft annimmt.

Übrigens rührt die Bezeichnung „Pyramidenbahn“ nicht von den Pyramidenzellen im primären Motorcortex her, ihrem Hauptursprungsort. Benannt ist sie vielmehr nach einer durch sie gebildeten Vorwölbung in der Medulla oblongata. Dort erscheint der Tractus corticospinalis im Querschnitt dreieckig: An dieser Pyramide kreuzen knapp 90 Prozent aller Nervenfasern der Pyramidenbahn auf die andere Körperseite. Die restlichen Nervenfasern kreuzen auch, allerdings später, auf der Höhe ihres Zielgebiets im Rückenmark. Demnach gibt immer die rechte Gehirnhälfte den Auftrag, mit dem linken Finger das „A“ zu tippen.

Die Pyramidenbahn tritt nicht direkt mit den Muskeln in Kontakt: Die Autobahn endet spätestens dort im Rückenmark, wo das spinale Motoneuron entspringt, das den Muskel, der bewegt werden soll, ansteuert. Motoneurone sind Nervenzellen, deren Fortsätze zur quergestreiften Skelettmuskulatur ziehen und sie kontrahieren lassen (siehe Info-​Box).

Allerdings sind nur bei Hand– und Fingermuskeln Pyramidenbahn und Motoneurone direkt miteinander verschaltet − das ist auch ein Grund dafür, warum wir so fingerfertig sind. Bei anderen Körperteilen trifft die Pyramidenbahn hingegen zunächst auf ein oder mehrere so genannte Interneurone. Diese zwischengeschalteten Nervenzellen leiten die Information dann an das zuständige Motoneuron weiter. Auf seiner Reise vom Gehirn zu Beinen und Füßen muss das Signal also noch einen Umweg über zwei, drei weitere Schnellstraßen nehmen, bevor es am Zielort ankommt.

Rückkopplungen durch sensible Bahnen

Beim Menschen versorgt ein Teil der Pyramidenbahn auch die Lippen-​, Kehlkopf– und Zungenmuskulatur − das ist einer der Gründe, warum wir die einzigen Primaten sind, die sprechen können. Die Kontraktion läuft dort genauso ab wie bei anderen Körperteilen; allerdings ziehen die Nervenbündel vom primären Motorcortex nicht erst ins Rückenmark, denn der zuständige Teil der Pyramidenbahn zweigt schon vorher ab, im Hirnstamm.

Selbstverständlich führen wir Bewegungen niemals isoliert aus, sondern es gibt stets Rückkopplungen: Teile des Gehirns erhalten ständig Rückmeldung darüber, wie weit eine Bewegung fortgeschritten ist und wie viel Kraft aufgewendet wird. Gleichzeitig werden permanent die Lage des Körpers im Raum geprüft und die Bewegungen an die aktuelle Situation angepasst. Diese Informationen werden ebenfalls über Bahnen im Rückenmark geleitet, diesmal jedoch von Sinnesrezeptoren in Muskeln, Sehnen, Gelenken und Haut in Richtung Gehirn, über die so genannten sensorischen Bahnen.

Die Reise motorischer Signale vom Hirn zum Fingermuskel ist demnach zwar eine Autobahnfahrt − aber eine in Begleitung sehr vieler anderer Autos auf den Spuren der Gegenrichtung.

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