Ein einseitiges Leben
Nach einem Schlaganfall verlieren manche Menschen eine Hälfte der Welt – sie ignorieren eine Seite ihres Körpers und seiner Umgebung. Bestimmte Hirnregionen sorgen bei den Betroffenen nicht mehr für die nötige Aufmerksamkeit und Orientierung.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Walter Sturm, Dr. Arno Reich
Veröffentlicht: 18.09.2017
Niveau: schwer
- Neglect ist eine durch eine Hirnschädigung bedingte Fehlleitung der Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Umgebung.
- Grundlegende motorische und sensorische Funktionen sind intakt, dennoch achten Betroffene nicht auf die der Hirnschädigung gegenüberliegende Körper- und Raumhälfte.
- Ursache der Störung sind geschädigte Hirnregionen, wie der rechte untere Parietallappen, die normalerweise die verschiedenen Aufmerksamkeitsfunktionen steuern und die Orientierung im Raum ermöglichen.
Der Neurologe Marsel Mesulam von der Northwestern University Feinberg School of Medicine in Chicago setzt bei der interessanten Frage an, warum gerade Schädigungen in der rechten Hirnhemisphäre zu der Aufmerksamkeitsstörung Neglect führen. Die rechte Hirnhälfte, so Mesulam, steuere die Aufmerksamkeit und Orientierung zur linken und rechten Seite des Raumes. Die linke Hemisphäre hingegen kontrolliere nur die Aufmerksamkeit auf die rechte Hälfte. Sei sie geschädigt, könne die intakte rechte immer noch beide Seiten des Raumes abdecken. Komme nun allerdings die rechte zu Schaden, bleibe die Aufmerksamkeit auf die rechte Hälfte der Welt beschränkt. Zu dieser Theorie passt, dass Menschen mit einer linksseitigen Hirnschädigung zwar auch von Neglect-Symptomen berichten, diese jedoch meist schneller wieder verschwinden als bei Patienten mit rechtsseitiger Hirnschädigung – oft schon nach wenigen Stunden.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Reizen bzw. Informationen konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Am 24. September 1967 kommt dem Maler Anton Räderscheidt ein Teil der Welt abhanden. Durch einen Schlaganfall in der rechten Hirnhälfte kann er die linke Seite seines Gesichtsfeldes nicht mehr wahrnehmen. Ein Selbstbildnis, gerade einmal zwei Monate nach dem Schlaganfall entstanden, zeugt von dem dramatischen Einschnitt in seinem Leben. Die linke Hälfte des Bildes bleibt leer, das Gemälde lässt sein Gesicht nur erahnen.
In sein Tagebuch notiert der Vertreter der “Neuen Sachlichkeit”: “Ein Schlaganfall hat mich von der Bühne gezogen, in den Kulissen spielt das Spiel mit mir. Die Regie ist nicht mehr in meinen Händen.” Mit großer Willenskraft und systematischem Üben erobert sich der 75-Jährige in den folgenden Monaten den verlorenen Teil der Welt und seiner Kunst zurück. Die Selbstbildnisse aus dieser Zeit zeigen nach und nach wieder einen vollständigen Anton Räderscheidt.
Der deutsche Künstler befindet sich unfreiwillig in reger Gesellschaft. “In rund 25 bis 30 Prozent aller Schlaganfälle in der rechten Gehirnseite tritt diese Symptomatik auf”, sagt die Psychologin Susanne Ferber von der University of Toronto. Bei dem so genannten Neglect (vom Lateinischen „neglegere“: vernachlässigen) ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Umgebung fehlgeleitet. Ursache ist eine Hirnschädigung, meist aufgrund eines Schlaganfalls.
Patienten ignorieren in der Folge die Seite ihres Körpers und ihres Wahrnehmungsraumes, die der geschädigten Hirnhälfte gegenüber liegt. Oft berichten Patienten mit einer Schädigung der rechten Hirnhälfte von entsprechenden Symptomen. Für sie hört die linke Hälfte der Welt praktisch auf zu existieren. Doch es sind auch Fälle eines Neglects nach linksseitiger Hirnschädigung bekannt (siehe Info-Box).
Einige Patienten leiden zudem an einer so genannten Anosognosie: Sie bekommen nicht einmal mit, wie “einseitig” ihr Leben von einem auf den anderen Tag geworden ist. “Einer meiner Patienten rasierte sich nur eine Seite seines Gesichts”, erinnert sich Susanne Ferber. “Eine andere Patientin bearbeitete in ihrem Kreuzworträtsel ausschließlich die rechte Seite.”
Anosognosie
Anosognosie/-/anosognosia
Wörtlich bedeutet der Begriff aus dem Griechischen das „Nicht-Erkennen“ der eigenen neurologischen Krankheit – beispielsweise einer Halbseitenlähmung oder Taubheit. Die Patienten konfabulieren (erfinden) stattdessen Gründe für die Störung oder leugnen die Krankheit völlig. Die Anosognosie kommt meist nach Schädigungen der rechten Hemisphäre im fronto-parietalen und insulären Bereich vor und bildet sich meist nach wenigen Monaten zurück.
Störung der Aufmerksamkeit
Neglect ist eine multimodale Störung, denn prinzipiell macht sie vor keinem der fünf Sinne halt. Manche Schlaganfallpatienten etwa reagieren überhaupt nicht oder erst verspätet auf Berührungen oder Schmerzen in der vernachlässigten Körperhälfte. Teilweise vermuten sie die Stelle der Berührung oder des Schmerzes auf der nicht betroffenen Seite. Bei einem repräsentationalen Neglect können selbst die Erinnerungen merkwürdig halbiert sein. Das belegte 1978 ein berühmtes Experiment der Neurologen Edoardo Bisiach und Claudio Luzzatti von der Universität Mailand. Probanden mit einer Schädigung der rechten Hirnhälfte beschrieben aus dem Gedächtnis heraus einen Domplatz, der ihnen eigentlich wohl vertraut sein sollte. Doch ihre Vorstellungen waren auffällig durchlöchert: Plätze oder Straßen, die sich jeweils auf der linken Seite der vorgestellten Perspektive befanden, waren aus ihren Erinnerungen getilgt.
Etwas eint die verschiedenen Formen des Neglects: Bei den Betroffenen wie Anton Räderscheidt streiken weder die Motorik noch die Sinne. Visuelle Reize in der vernachlässigten Raumhälfte registriert ihr Gehirn durchaus – zumindest auf frühen Stufen der neuronalen Verarbeitung. Das konnten Bildgebungsstudien im primären visuellen Cortex nachweisen. Doch offensichtlich erreicht der Input nicht das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit. Neglect gilt daher als Aufmerksamkeitsstörung.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Reizen bzw. Informationen konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
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Zerstörte Hirnregionen als Auslöser?
Hirnforscher haben als Ausgangspunkt des Neglects entsprechend Areale im Verdacht, die für die Aufmerksamkeit unerlässlich sind. Einen wichtigen Erkenntnisschritt taten die Neurologen Giuseppe Vallar von der Universität Mailand und Daniela Perani von der Universitá Vita-Salute San Raffaele in Mailand bereits 1986. Mittels Computertomografie fanden sie bei Schlaganfallpatienten vor allem Läsionen im rechten unteren Scheitellappen. Diese auch als unterer Parietallappen bezeichnete Hirnregion spielt bei der Integration von Wahrnehmungsreizen eine wichtige Rolle. Zudem sorgt sie dafür, dass wir uns räumlich orientieren und die Aufmerksamkeit von einem Punkt des Raumes auf einen anderen richten können.
Mittlerweile gehen viele Forscher davon aus, dass auch noch andere geschädigte Hirnregionen für die Aufmerksamkeitsstörung verantwortlich sind. Eine Theorie besagt, dass neben dem Parietallappen auch Teile des rechten frontalen Cortex und der rechte obere temporale Cortex beteiligt sind. “Diese Gebiete in der rechten Hemisphäre sind zu einem engen Netzwerk verknüpft und dafür zuständig, dass ich meine Aufmerksamkeit im Raum ausrichte”, erklärt der Neuropsychologe Hans-Otto Karnath. “Das Netzwerk ermöglicht, dass mein Kopf auf meinem Rumpf und auch meine Augen geradeaus gerichtet sind”, so der Hirnforscher vom Universitätsklinikum Tübingen. Erzeuge man etwa beim Affen eine Läsion in diesem Netzwerk, verschiebe sich dessen Ausrichtung. “Der Kopf und die Augen sind nun extrem nach rechts orientiert, alle Informationen auf der linken Seite werden nicht mehr beachtet.”
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Reizen bzw. Informationen konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Gekappte Verbindungen
Andere Forscher sehen eher eine Schädigung tief im Inneren des Gehirns als zentrale Ursache. So fand der Neurologe Paolo Bartolomeo vom französischen Institute of Health and Medical Research in einer Studie aus dem Jahr 2007 Hinweise darauf, dass eine Schädigung der weißen Substanz, welche die parietalen und frontalen Hirnareale miteinander verknüpft, zu einem Neglect führen kann. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam ein Team um Maurizio Corbetta von der Washington University School of Medicine. Die Forscher untersuchten 2007 die Kommunikation im Gehirn von Schlaganfallpatienten. War es schlecht um die Verbindung in bestimmten Netzwerken bestellt, war auch die Aufmerksamkeitsstörung ausgeprägter.
Doch auch zerstörte subcortikale Gebiete wie die Basalganglien können einen unerwünschten Beitrag leisten. Diese Areale befinden sich unterhalb der Großhirnrinde, unterhalten aber Verbindungen zu cortikalen Gebieten. “Lange Zeit war umstritten, welche Bedeutung subcortikale Läsionen haben”, erklärt Hans-Otto Karnath. “Mittlerweile wissen wir, dass dort befindliche Neurone eine indirekte Rolle spielen. Sind sie geschädigt, werden genau die cortikalen Gebiete nur noch unzureichend mit Blut versorgt, die bei anderen Neglect-Patienten eben direkt zerstört sind.” Offensichtlich mit erheblichen Langzeitfolgen. Denn gerade die Patienten weisen unter anderem zerstörte Basalganglien auf, bei denen Neglect chronisch wird. Das konnte Karnath 2011 in einer Langzeitstudie feststellen.
Auch wenn die Forscherwelt die genauen Hintergründe der Krankheit noch nicht ermittelt hat: Eine gute Nachricht gibt es trotzdem: In 60 bis 90 Prozent der Fälle gehen die Symptome bei Neglect-Patienten zurück, oft sogar ganz von alleine. In schwereren Fällen versuchen Therapien die Patienten dazu zu bringen, die vernachlässigte Körperseite wieder zu beachten.
Hierbei werden derzeit viele unterschiedliche Methoden angewandt. So können Betroffene Kopf– und Augenbewegungen am Computer zur unbeachteten Seite hin trainieren oder die Aktivierung ihrer Aufmerksamkeit (Alertness) verbessern. Auch Prismen-Brillen werden eingesetzt. Zusätzlich zu dem Verhaltenstraining kann man auch die Nackenmuskulatur von Patienten auf der vernachlässigten Körperseite mit Hilfe eines speziellen Vibrators stimulieren. Eines ist auf dem Wege der Besserung aber auch noch wichtig, wie das Beispiel von Anton Räderscheidt zeigt: viel Willenskraft.
Basalganglien
Basalganglien/Nuclei basales/basal ganglia
Basalganglien sind eine Gruppe subcorticaler Kerne (unterhalb der Großhirnrinde gelegen) im Telencephalon. Zu den Basalganglien zählen der Globus pallidus und das Striatum, und je nach Autor weitere Strukturen, wie z. B. die Substantia nigra und der Nucleus subthalamicus. Die Basalganglien werden primär mit der Willkürmotorik in Verbindung gebracht, beeinflussen aber auch Motivation, Lernen und Emotion.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Reizen bzw. Informationen konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
zum Weiterlesen:
- He, B.J., et al: Breakdown of functional connectivity in frontoparietal networks underlies behavioral deficits in spatial neglect. Neuron. 2007; 53:905 – 918 (zum Abstract).
- Karnath, H-O., et al: The anatomy underlying acute versus chronic spatial neglect: a longitudinal study. Brain. 2011; 134(3):903 – 912 (zum Abstract).
- Karnath, H-O., et al.: Damage to white matter fiber tracts in acute spatial neglect. Cerebral Cortex. 2009; 19(10):2331 – 2337 (zum Text).
- Kerkhoff, G: Neglect und assoziierte Störungen. Göttingen: Hogrefe, 2004.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Veröffentlichung: am 28.12.2012
Aktualisierung: am 18.09.2017



