Sinne mit Sinn

Grafik: MW

Sie sind alt, aber nicht aus der Mottenkiste: Sehen und Hören warten mit erstaunlichen Tricks der Evolution auf

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Jutta Engel

Veröffentlicht: 21.12.2021

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • Je nach ökologischer Nische haben Säuger, Vögel und Amphibien im Laufe der Evolution raffinierte Sinnesorgane und Mechanismen für die Wahrnehmung von Reizen entwickelt.
  • Aus welcher Richtung Schall kommt, bestimmen Säuger über ein Kerngebiet im Stammhirn. 
  • Im Gegensatz zu Säugetieren haben Vögel eine topografische Abbildung der akustischen Umgebung im Gehirn und können Schall präzise orten. 
  • Im auditorischen Cortex reagieren einzelne Neurone ganz spezifisch und stark auf bestimmte akustische Reize, andere Neurone spezifisch auf andere Reize. 
  • Um den Blick auch in Bewegung stabil zu halten, haben sich im Laufe der Evolution Augenmuskeln entwickelt, die die Bewegung kompensieren.  

Sehen und Hören sind uns in die Wiege gelegt und erscheinen uns damit völlig selbstverständlich. Doch schaut man ins Gehirn, sind unsere Sinnessysteme extrem ausgetüftelt und wurden im Laufe der Evolution mühsam erworben. Die Vorfahren von Mensch und Tier konnten es sich nicht einfach bequem machen in ihrer ökologischen Nische. Anpassung war vielmehr ein ständiges Gebot. Kündigte sich Gefahr an, etwa durch ein Knacken oder Rascheln, war es ein echter Überlebensvorteil zu wissen, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Für uns ist es ein Leichtes, eine Schallquelle zumindest ungefähr zu orten. Doch müssten wir die nötigen Berechnungen vornehmen, die unser Gehirn anstellt, damit das gelingt, kämen wir wahrscheinlich ganz schön ins Schwitzen.  

Ein einleuchtendes Prinzip, das das auditorische System dafür nutzen kann: Schall benötigt unterschiedlich viel Zeit, um das linke und rechte Ohr zu erreichen. Das schallzugewandte Ohr empfängt dasselbe Geräusch lauter und früher als das schallabgewandte Ohr. Über diese zeitliche Differenz kann das Gehirn den Schall lokalisieren. Dabei erzeugen Neurone der medialen oberen Olive (MSO) ein neuronales Abbild des akustischen Raumes. Dieses Kerngebiet befindet sich in der aufsteigenden Hörbahn im Stammhirn von Säugern. "Wenn nun ein Schall von rechts kommt, wird vor allem die linke mediale obere Olive aktiviert", sagt der Neurowissenschaftler Benedikt Grothe von der LMU München. "Kommt ein Schall von vorne, werden linke und rechte mediale obere Olive gleichermaßen aktiviert." 

Doch wie Grothe und seine Kollegen festgestellt haben, ist die Sache im Detail dann doch noch etwas komplizierter. Das hat ihnen die mongolische Wüstenrennmaus verraten. Bei ihr sorgt eine negative Rückkopplungsschleife über eine andere Kernregion dafür, dass die vorher dominierende mediale obere Olive Millisekunden später weniger stark reagiert. "Wenn nun in unserem Beispiel ein neuer Schall von vorne kommt, wird vor allem die rechte mediale obere Olive antworten und der Schall wird fälschlich links verortet", so Grothe. 

Erst wollten Grothe und seine Kollegen diesem Befund keinen rechten Glauben schenken. Schließlich ergab sich aus ihren Messungen, dass Säugetiere systematisch einen zweiten Schall falsch verorten. Konnte das sein? Tatsächlich: Die fehlerhafte Ortung ließ sich auch bei menschlichen Probanden belegen. Es steht zu vermuten, dass die Rückkopplungsschleife nicht nur bei der Rennmaus, sondern bei allen Säugetieren existiert.

"Säugetiere nehmen den akustischen Raum um sie herum nicht absolut, sondern relativ wahr", sagt Grothe. Und damit anders als Vögel. Denn bei Vögeln werden je nach Richtung der Schallquelle andere Nervenzellen aktiviert. "Die Neurone sind bei Vögeln systematisch angeordnet, sodass eine topografische Abbildung der akustischen Umgebung entsteht", sagt der Münchner Neurowissenschaftler. Solche Karten finden sich im Stammhirn und Mittelhirn von Vögeln. In der Folge vermögen Vögel auch bei mehreren Schallereignissen hintereinander die Quelle präzise zu lokalisieren. Bei Säugetieren existieren hingegen keine topografischen neuronalen Karten des Hörraums.

Wie lässt sich aber nun evolutionsbiologisch erklären, dass Säugetiere bei der Schalllokalisation systematisch Fehler machen? "Wir stammen ursprünglich von winzig kleinen nachtaktiven Säugetieren ab", erklärt Benedikt Grothe. Als Säuger Ohren entwickelten, waren sie keine Jäger, sondern Gejagte – über viele, viele Millionen Jahre. "Zum Laufen auf der Flucht in die andere Richtung mussten sie den Jäger nicht auf 1,5 Grad genau lokalisieren, wie es etwa eine Eule kann." Die Vögel stammen hingegen von Dinosauriern ab, die ihre Beute genau lokalisieren mussten, um erfolgreich zu sein. Bei Säugern fehlte über Jahrmillionen nach Entwicklung der Ohren der entsprechende Selektionsdruck. "Zudem machen Säuger nicht einfach nur Fehler", betont Benedikt Grothe. "Denn tatsächlich verschiebt sich bei ihnen die räumliche Auflösung dynamisch, je nach Hörsituation. Und das wiederum ist für die Trennung von Schallquellen hilfreich.“

Echte Spezialisten

Wie ausgetüftelt das Hören im Gehirn ist, zeigt sich auch an anderer Stelle: Wenn man betrachtet, wie komplexe Reize aus der Umwelt im Gehirn abgebildet werden. Den Neurophysiologen Arthur Konnerth von der Technischen Universität München interessiert, was die zellulären Grundlagen des so genannten „Sparse Coding“ sind. Vereinfacht gesagt gehe es um die Frage, warum etwa im auditorischen Cortex nur sehr wenige Neurone auf einen bestimmten Reiz hin mit großen elektrischen Signalen antworten, sagt Konnerth. "Auf andere Reize antworten jeweils unterschiedliche, kleine Gruppen anderer Neurone." Konnerth untersucht die Grundlagen dieses Phänomens mit dem hochauflösenden Zwei-Photonen-Netzwerk-Kalzium-Imaging, einer bildgebenden Methode, die er ursprünglich selbst mit Kollegen entwickelt hat. "Damit kann die Aktivität zahlreicher Zellen des Cortex im intakten Gehirn des Versuchstiers simultan gemessen werden."

In einer 2020 veröffentlichten Studie hat ein Team um den Münchner Neurophysiologen Mäuse Akkorde aus drei oder vier Tönen mehrfach hören und damit memorieren lassen. Nach dem Training beobachteten die Forscher, dass einige wenige Neurone spezifisch auf den Gesamtakkord mit starkem Feuern reagierten. Keine nennenswerte Reaktion gab es aber auf die Einzeltöne des Akkords. Komplexe Sinnesreize werden offenbar von einzelnen Neuronen der auditorischen Hirnrinde spezifisch repräsentiert. 

Ähnlich wie die Schalllokalisation könnte uns auch das Sparse Coding in die Wiege gelegt sein. In noch laufenden Studien testen Arthur Konnerth und seine Kollegen, ob das Sparse Coding angeboren oder erlernt ist. Erste Hinweise gibt es bereits – allerdings nicht für den auditorischen Cortex, sondern für den visuellen Cortex. Bereits früh in dessen Entwicklung antworten einige wenige Neurone mit großen elektrischen Signalen spezifisch auf bis dahin unbekannte Lichtreize. Konnerths Vermutung: "Vielleicht ist das ein Hinweis dafür, das Sparse Coding zumindest in Grundzügen früh angelegt ist und ein Gerüst für die spätere Hirnentwicklung bildet."  


 

Auditorischer Cortex

Auditorischer Cortex/-/auditory cortex

Der auditorische Cortex ist ein Teil des Temporallappens, der mit der Verarbeitung akustischer Signale befasst ist. Er unterteilt sich in primäre und sekundäre Hörrinde.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

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Stabiler Blick

Definitiv ein Trick aus der Experimentierkiste der Evolution ist die Fähigkeit, den Blick konstant zu halten, wenn wir uns bewegen. Normalerweise geht man davon aus, dass das Gleichgewichtsorgan im Innenohr die Bewegung des Kopfes registriert. Und dann Signale an die Augenmuskeln sendet, wodurch sich die Augen bewegen und die Kopfbewegung kompensieren. Wenn man etwa den Kopf nach rechts bewegt, bewegen sich die Augen nach links. Der Neurobiologe Hans Straka von der LMU in München erkannte allerdings: Zumindest bei sehr rhythmischen und gleichmäßig durchgeführten Bewegungen kommen die Signale zur Blickstabilisierung nicht in erster Linie vom Gleichgewichtsorgan, sondern direkt aus dem Rückenmark. 

Um den Tricks der Evolution auf die Schliche zu kommen, mussten Hans Straka und seine Kollegen ebenfalls tricksen. Sie entwickelten ein isoliertes Schädelpräparat von Kaulquappen des Krallenfrosches. "Der Vorteil: Wir können alles entfernen, was wir nicht benötigen", sagt Straka. "Das Rückenmark lassen wir intakt, und dieses Präparat erzeugt weiterhin Fortbewegungssignale im Rückenmark für Links-Rechts-Schwimmbewegungen des Schwanzes." Gleichzeitig können die Forscher Augenbewegungen mit einer Kamera erfassen. Das Präparat haben sie auf einen Bewegungssimulator gepackt. Zudem haben sie um das Präparat einen Bildschirm gebaut, mit dem sie Streifenmuster oder Punktemuster präsentieren können. "Dadurch haben wir in dem Präparat sowohl rhythmische Fortbewegung als auch sensorische Signale des Innenohrs."  

Flexible Augenbewegungen

Der Kopf der Kaulquappe bewegt sich bei den Schwimmbewegungen nach links und rechts. Der erwachsene Frosch, nach der Metamorphose, bewegt sich hingegen stoßartig vorwärts, mit seinen Beinen. Dadurch sind die Augenbewegungen von Kaulquappe und Frosch unterschiedlich. Straka und seine Kollegen stellten fest: Das Nervensystem ist so plastisch, dass der Blick auch nach der Metamorphose zum Frosch stabilisiert wird.

Die Stabilisierung des Blicks ergibt evolutionären Sinn. Als unsere Wirbeltiervorfahren begannen, sich frei zu bewegen und andere Tiere wahrzunehmen, hatten sie ein Problem: Sie wussten nicht, ob eine wahrgenommene Bewegung durch die eigene Bewegung entstanden ist oder durch die Bewegung des anderen Tieres. "Von daher entwickelten sich Augenmuskeln, die den Blick und das Bild der Umgebung stabil halten", sagt Hans Straka. "Und zwar indem sie bei eigenen Bewegungen jeweils Gegenbewegungen der Augen durchführen. Ein stabiles Bild der Umgebung ist notwendig, um es analysieren zu können."

Ob nun das Orten von Schall oder die Stabilisierung des Blicks: Säuger, Vögel oder Amphibien – sie alle gingen durch die harte Schule der Evolution. Und sie alle haben sich, abhängig von ihrer ökologischen Nische, raffinierte sensorische und neuronale  Tricks zugelegt, um zu überleben.  

Zum Weiterlesen

  • Wang , M et al.: Single-neuron representation of learned complex sounds in the auditory cortex. Nat Commun, 2020 Aug 31;11(1):4361. 

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