Die komplexeste Alarmanlage der Welt

Grafik: MW

Der Schmerz ist die Alarmanlage des Körpers. Er schützt und quält uns zugleich und benötigt dazu große Teile des Gehirns. Wie das Schmerzerleben im Detail vor sich geht und was dabei schief gehen kann, verstehen die Forscher immer besser.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Christian Büchel

Veröffentlicht: 29.09.2016

Niveau: schwer

Das Wichtigste in Kürze
  • Das Gehirn kennt kein Schmerzzentrum. Damit Menschen Schmerzen empfinden können, müssen zahlreiche Hirnregionen zusammenarbeiten.
  • Wo genau im Gehirn die Schmerzempfindung entsteht, ist nicht bekannt. 
  • Zum Schmerzempfinden gehört immer auch seine emotionale Bewertung, das macht Schmerzen zu einem so komplexen Phänomen. 
  • Eine zentrale Rolle für die Schmerzverarbeitung spielt der stark mit anderen Hirnregionen und vor allem mit dem Cortex vernetzte Thalamus. 
  • Das Schmerzsystem des Körpers umfasst zahlreiche Rückkopplungsschleifen, es ist daher kaum möglich, zwischen zentraler (im Gehirn stattfindender) und peripherer (im Körper stattfindender) Schmerzverarbeitung zu unterscheiden.
  • Chronischer Schmerz ist nicht einfach ein dauerhafter akuter Schmerz, sondern ihm liegt ein veränderter Zustand des Gehirns zugrunde.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Frühchen

Zu früh geborene Kinder müssen oft zahlreiche, auch schmerzhafte therapeutische Maßnahmen über sich ergehen lassen, wie etwa das Blutabnehmen. Noch vor 30 Jahren ging man trotz den unübersehbaren körperlichen Schmerzreaktionen der Kinder davon aus, dass die Gehirne der Frühchen zu unterentwickelt seien, um Schmerzen zu empfinden oder sich später an diese zu erinnern. Neuere Studien zeigen hingegen massive Reaktionen der jungen Gehirne auf Schmerzreize und den Anstieg von Stresshormonen im kindlichen Blut. Johanna Hohmeister von der Gießener Universitätsklinik hat Kinder und Jugendliche befragt, die zu früh geboren wurden und Therapien oder Operationen über sich ergehen lassen mussten. Sie fand, dass diese noch im Alter von elf bis 16 Jahren eine stärkere Gehirnreaktion auf schmerzhafte Reize zeigten als reifer geborene Kinder. Auch die normalerweise zu beobachtende Gewöhnung bei wiederholter Reizung fehlte ihnen. Diese und ähnliche Erkenntnisse haben dazu geführt, dass Frühchen heute selbstverständlich mit Schmerzmitteln behandelt werden. Dass die Schmerzmittel meist nicht für solch kleine Wesen erprobt sind und sie stark belasten, bleibt eine Herausforderung für die Forschung.

zum Weiterlesen:
Johanna Hohmeister, Alexander Kroll, Iris Wollgarten-Hadamek, Katrin Zohsel, Süha Demirakça, Herta Flor, Christiane Hermann: Cerebral processing of pain in school-aged children with neonatal nociceptive input: An exploratory fMRI study. PAIN 150 (2010) 257–267 DOI:10.1016/j.pain.2010.04.004 (Abstract).

Juckreiz

Juckreiz fühlt sich erst einmal ganz anders an, kann aber ebenso quälend sein wie Schmerz. “Juckreiz hat auch dieselbe Funktion wie Schmerz: die Integrität des Körpers zu bewahren”, sagt Martin Schmelz. Das Jucken macht uns auf eine Stelle aufmerksam, an der etwas Schädliches mit unserer Haut in Kontakt kommt, vielleicht eine Milbe. Durch eine im Cortex ausgelöste Belohnungsreaktion lassen wir uns dann zu einem Verhalten hinreißen, das gut tut, obwohl wir uns dabei selbst verletzen: wir kratzen uns, um den Urheber des Juckreizes loszuwerden.

Es gibt in der Haut spezifische Rezeptoren für Juckreiz. Aber auch Rezeptoren, die gewöhnlich Schmerzreize weiterleiten, können Jucken auslösen, wenn sie im richtigen Muster gereizt werden. Das hat praktische Folgen: “Die gewöhnlichen Rezeptoren für Juckreiz reagieren auf Histamin, dann kann man den Juckreiz mit Antihistaminika behandeln. Wenn aber auch noch Schmerzrezeptoren, von denen es eine große Vielfalt gibt, Juckreiz verursachen, wird die Chance, diesen zu behandlen, viel schlechter”, erklärt Schmelz.

Am Juckreiz und seinen Folgen lässt sich auch ein anderer Prozess erforschen: die Sensibilisierung. Ist eine Hautstelle erst entzündet, wird jeder leichte Druck plötzlich als Schmerz wahrgenommen. Diese Übererregbarkeit könnte auch Hinweise darauf liefern, wie chronischer Schmerz entsteht.

zum Weiterlesen:
Schmelz M. Itch and pain. Differences and commonalities. Handbook of experimental pharmacology 2015; 227: 285-301, DOI: 10.1007/978-3-662-46450-2_14 (Abstract).

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Der Schmerz ist die Alarmanlage des Körpers. Sie lässt uns unmissverständlich wissen, dass etwas schiefläuft und wir etwas unternehmen sollten. Doch anders als eine Alarmanlage kennt der Schmerz nicht nur Sirene und Blinklicht. Eine Verbrennung fühlt sich ganz anders an als ein Magenkrampf und niemand wird das dumpfe Pochen der Migräné mit dem Schmerz verwechseln, den ein eingeklemmter Finger hervorruft. Genau genommen gibt es “den Schmerz” nicht. Und so vielfältig sich die Schmerzerfahrung darstellt, so komplex ist die Schmerzverarbeitung im Gehirn.

Es gibt kein Schmerzzentrum im Gehirn

Dem französischen Philosophen René Descartes war schon 1644 klar, dass Schmerzen im Gehirn entstehen. In seiner Schrift “Über den Menschen” beschrieb er den zugrunde liegenden Mechanismus als eine Art Seilzug: Kommt man zum Beispiel mit dem Fuß zu nah an ein Feuer, werde der Reiz über diesen Seilzug ins Gehirn geleitet, wo dann eine Alarmglocke läute.

Richtig daran ist, dass es vor allem in der Haut aber auch in vielen Organen (nicht im Gehirn), feine freie Nervenendigungen gibt: die Schmerzsensoren oder Nozizeptoren. Sie wachen über die Unversehrtheit des Gewebes und reagieren auf Druck und Dehnung, Hitze und Kälte, Chemikalien und Entzündungen. Je stärker der Reiz, desto deutlicher ist das Signal, das die Nozizeptoren an das Gehirn weiterreichen.

Der Weg dieser Reize ins Gehirn ist mit schnelleren und langsameren Bahnen und diversen Rückkopplungsschleifen deutlich komplexer als es Descartes ahnen konnte [Verweis auf den Text „Der Weg zum Gehirn“]. Und im Gehirn ist es mit der Analogie von Seilzug und Alarmglocke ganz vorbei. Dort gibt es nämlich kein eigenes Zentrum, das auf die Wahrnehmung von Schmerz spezialisiert wäre, keinen Aufhänger für die Schmerzglocke. Das Schmerzempfinden besteht nicht einfach aus einer neuronalen Nachricht über einen Gewebeschaden oder eine Funktionsstörung, die irgendwo im Gehirn ankommt. “Wir glauben heute, dass Schmerzen von einem ganzen Netzwerk von Regionen erzeugt und aufrecht erhalten werden, und dass die Verbindungen zwischen diesen Regionen das Entscheidende sind”, sagt Herta Flor, wissenschaftliche Direktorin am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim und stellvertretende Sprecherin des Sonderforschungsbereiches (SFB) 1158 der Deutschen Forschungsgemeinschaft: “Wir können nicht sagen: hier ist der Punkt, wenn ich den stimuliere, dann habe ich Schmerzen.”

Schmerz wird im Gehirn vielfältig moduliert

Wie ein Schmerz sich anfühlt, hängt von sehr vielen Faktoren ab: Zum einen natürlich von der Art und dem Ort des Schadens. Geht der Schmerz auf eine Verletzung von Körpergewebe oder von Nervengewebe zurück, ist er akut oder chronisch? Zum anderen spielt die Bewertung der Situation durch den Leidenden eine zentrale Rolle: Wer weiß, dass ein akuter Schmerz eine harmlose Ursache hat, erlebt ihn als weniger schmerzhaft als jemand, der nicht recht weiß, was mit ihm geschieht. “Schmerz ist immer sensorisch und emotional zugleich. Das macht ihn so besonders”, sagt Herta Flor. Dies führt zugleich dazu, dass eine umfassende Theorie des Schmerzes noch nicht in Sicht ist.

Wie komplex die Schmerzverarbeitung im Gehirn ist, zeigt sich besonders deutlich an der Interaktion zwischen Thalamus und Cortex. Der bohnenförmige Thalamus ist etwa drei Zentimeter lang, tief im Gehirn paarig angelegt, und gilt als eine Art zentraler Verteiler: “Alle sensorischen Informationen, die aus dem Körper kommen, kommen im Thalamus an und werden von dort in die Großhirnrinde weitergeleitet”, erklärt Alexander Groh, Neurowissenschaftler an der Technischen Universität München, der im Rahmen des SFB 1158 über die Schmerzverarbeitung im Thalamus forscht. Vor allem aber sind die Verbindungen von Thalamus und Cortex keine Einbahnstraße. “Der Thalamus erhält massiv Informationen aus dem Cortex und anderen Teilen des Gehirns”, erklärt Groh: “Man kann das auszählen und stellt fest, dass ein Drittel der Verbindungen, über die der Thalamus verfügt, aus dem Cortex dorthin kommen.”

Nicht umsonst sprechen Forscher vom cortico-​thalamischen System wie von einer Einheit. Das heißt: Der Thalamus funktioniert nicht wie eine Ampelkreuzung, die lediglich regelt, wer wann wohin fahren darf. Vielmehr verändert der Thalamus die aus dem Körper eingehenden Reize bevor er sie in den Cortex schickt, und zwar abhängig davon, was der Cortex seinerseits zurückmeldet. „So kann der Cortex seinen eigenen Input mitbestimmen“, konstatiert Groh. Eine Vielfalt von Neurotransmittern ist daran beteiligt, die mal hemmende, mal verstärkende Funktion haben: von Glutamat und Gammaaminobuttersäure (GABA), Enkephalinen, Dopamin, Noradrenalin und Serotonin bis zu den schmerzhemmenden Endorphinen.

Groh wüsste gerne, ob diese Prozesse Einfluss auf die Schmerzwahrnehmung haben und ob man sie sich für die Schmerztherapie zunutze machen könnte. Aber so weit sind die Forscher noch nicht. Zum einen, weil der tief im Gehirn gelegene Thalamus nicht leicht zu erforschen ist. Zum anderen, weil für den Thalamus dasselbe gilt wie für das ganze Gehirn: Es sind dieselben Zellen, die mal Reize aus den Nozizeptoren, mal andere sensorische Informationen weiterleiten. “Wahrscheinlich sind es eher die Aktivitätsmuster der Nervenimpulse anhand derer das Gehirn erkennt, dass es sich um einen Schmerzreiz handelt”, sagt Groh. Zwei konkurrierende Ansätze, die Schmerzentstehung zu erklären – die Spezifizitätstheorie und die Mustertheorie – hätten demnach beide etwas für sich: Es gibt auf Schmerzwahrnehmung spezialisierte Rezeptoren, die Entstehung von Schmerz im Gehirn scheint aber eher von der Aktivierung bestimmter Muster abzuhängen.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Ein Job für das ganze Gehirn

Haben die Reize den Thalamus passiert, werden sie an verschiedene andere Bereiche des Cortex weitergeleitet. In den sensorischen Bereichen werden Ort und Intensität des Schmerzreizes festgestellt; “Rechte Wade, stechender Schmerz!”. Im Stirnhirn erfolgt die kognitive Einschätzung; “Das war eine Biene. Ich bin allergisch gegen Bienenstiche!” – und mit Erinnerungen verknüpft; “Wie im letzten Sommer!” Das limbische System steuert die affektive Bewertung bei ; “Gefahr!!!”, und motorische Areale sorgen dafür, dass wir etwas unternehmen, um den Körper zu schützen.

Herta Flor hat eine Studie durchgeführt, in der Versuchspersonen eine Woche lang entweder vorhersehbare oder unvorhersehbare Schmerzreize bekamen. Sie stellte fest, dass die Probanden der ersten Gruppe den Schmerz als weniger stark erlebten und in ihrer Schmerzwahrnehmung vor allem Regionen aktiv waren, die mit Voraussage und Kontrolle zu tun haben. In der zweiten Gruppe waren dagegen Hirnregionen aktiver, die mit Angst und Sensibilisierung in Verbindung gebracht werden. “Wie jemand einen Schmerzreiz verarbeitet, hat Auswirkungen auf die Weiterleitung von Schmerzreizen bis hinab ins Rückenmark”, sagt Flor. Sie nutzt diese Erkenntnis für die Schmerztherapie: “In vielen Fällen ist eine psychologische Therapie wirksamer als eine medikamentöse, man sollte das auf jeden Fall probieren.”

Je deutlicher die Forscher erkennen, wie stark das Gehirn die Schmerzwahrnehmung modulieren kann, desto fragwürdiger wird ihnen die Unterscheidung zwischen den zentralen, d.h. im Gehirn stattfindenden, und den peripheren Vorgängen in Gliedmaßen und dem Rückenmark. “Diese Unterscheidung spielt in unserem SFB eigentlich keine Rolle mehr”, sagt Martin Schmelz, der sich an der Universität Mannheim mit einer besonderen Art von Schmerz befasst: dem Juckreiz. [Siehe Infokasten

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Chronischer Schmerz ist anders

Dafür wird eine andere Unterscheidung immer wichtiger: die zwischen akutem und chronischem Schmerz. Chronischer Schmerz ist wie eine Alarmanlage, die sich nicht abstellen lässt. “Wir sehen immer deutlicher, dass es hier keinen fließenden Übergang gibt, sondern dass chronischer Schmerz wirklich ein ganz anderer Zustand ist als akuter Schmerz”, erklärt Herta Flor. Forscher erproben heute ganz verschiedene Methoden, um die Veränderungen im Gehirn chronisch schmerzkranker Patienten rückgängig zu machen: von der Elektrotherapie über virtuelle Realität und Spiegelexperimente bis zum Erlernen neuer Strategien im Umgang mit dem Schmerz. “Die Schmerztherapie muss individueller werden, wir müssen sehen, wer von welchen Strategien profitiert und beim wem welcher Mechanismus der Schmerzentstehung im Vordergrund steht”, sagt Flor. Denn so wichtig die Alarmanlage für den Schutz unseres Körpers auch ist, am schönsten ist es, wenn sie wieder still wird.

zum Weiterlesen:

  • Flor H, Diers M, Andoh JA. The neural basis of phantom limb pain. Trends Cogn Sci. 2013 17(7):307 – 8. Epub 2013 Apr 19. DOI 10.1016/j.tics.2013.04.007 (Abstract).
  • Mease RA, Markus Metz and Groh A (2016) Cortical sensory responses are enhanced by the higher-​order thalamus. Cell Reports. DOI doi:10.1016/j.celrep.2015.12.026 (Text).
  • David Le Breton: Schmerz. Eine Kulturgeschichte. Zürich, Berlin 2003.

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