Die Physiologie des Verlernens
Verlernen heißt nicht Vergessen. Bei der Extinktion werden keine Gedächtnisinhalte gelöscht, sondern deren Abruf gehemmt. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind dem ursprünglichen Lernvorgang sehr ähnlich. Ob es um Speck geht, oder um Cappuccino.
Wissenschaftliche Betreuung: Ingrid Ehrlich
Veröffentlicht: 04.03.2015
Niveau: schwer
- Bei der Extinktion, dem Verlernen, werden keine Inhalte aus dem Gehirn gelöscht. Es ist ein neuer Lernvorgang. Extinktion bedeutet eine Hemmung von zuvor Gelerntem. Diese Hemmung ist abhängig vom Kontext, also dem Zusammenhang, in dem der Lernvorgang geschah.
- Lernvorgänge wie die Extinktion erfolgen auf Zellebene durch die veränderliche Übertragungseffizienz von Synapsen. Wird ein Signal in einer Synapse verstärkt, spricht man von Potenzierung, wird es abgeschwächt, von Depression synaptischer Übertragung.
- Beim Erkunden einer neuen Umgebung kommt es zu einer Langzeitpotenzierung im Hippocampus.
- Tauchen in einer Umgebung neue räumliche Merkmale auf, führt das umgekehrt zu einer Langzeitdepression unterstützt durch den Botenstoff Noradrenalin. In der Folge kann eine zuvor erlernte Verhaltensweise gehemmt werden.
Depression
Depression/-/depression
Psychische Erkrankung, deren Hauptsymptome die traurige Verstimmung sowie der Verlust von Freude, Antrieb und Interesse sind. In den gegenwärtigen Klassifikationssystemen werden verschiedene Arten der Depression unterschieden.
Das Leben besteht aus Veränderung. Nichts ist, wie es war, nichts bleibt, wie es ist. Sich der Umwelt anzupassen, bedeutet zu lernen. Doch Gelerntes darf nicht in Stein gemeißelt sein – was lebt, muss umlernen, um sich immer wieder und neu anpassen zu können. Das ist kompliziert und um es noch komplizierter zu machen, darf Umlernen nicht zu Vergessen führen. Sonst müssten wir alle das Rad ständig neu erfinden. Dass dem so nicht ist, verdanken wir dem Extinktionslernen.
Wichtiges lernen
Nehmen wir an, auf Ihrem täglichen Gang zur Arbeit machen Sie regelmäßig einen kurzen Abstecher zu einem ganz bestimmten Kiosk. Dort holen Sie sich die Zeitung Ihres Vertrauens und den ersten Cappuccino des Tages (der wirklich exzellent ist, das muss man sagen!). Sie kennen den alten Besitzer, Sie lächeln sich an, schwatzen kurz, ziehen weiter ins Büro. Das betreiben Sie nun seit 10 Jahren, morgens und – für eine letzte Dosis Koffein – auch abends.
Damals, bei Ihren ersten Abstechern, mussten Sie den Kiosk erst einmal wiederfinden. Ein, zwei Mal haben Sie im Dschungel der Großstadt die falsche Seitenstraße gewählt – und mussten auf den Cappuccino verzichten. Doch nach kurzer Zeit hatten Sie den Weg gelernt: Es war die zweite links zum Herderplatz und nicht die erste links zum Rathaus.
Lernen auf Zellebene schlägt sich nieder in einer Veränderung der Verbindung verschiedener Neurone – je häufiger Sie das Ziel „Cappuccino“ und die „Seitenstraße Richtung Herderplatz“ gemeinsam aktivierten, umso stärker wurde die Verbindung der entsprechenden Neurone. Die beteiligten Neurone feuern dabei gemeinsam und etablierten so ein Netzwerk, das diese Erinnerung speichert. Damit diese Neurone effektiver gemeinsam feuern können, verstärken sich ihre Verknüpfungsstellen, die Synapsen. Man spricht hier von synaptischer Plastizität.
Place cells für Cappuccino
Für viele Gedächtnisprozesse ist der Hippocampus im Temporallappen eine entscheidende Struktur – er bildet unter anderem eine Art Brücke zwischen Kurz– und Langzeitgedächtnis. Und nicht zuletzt liefert er die Information zum Kontext einer bestimmten Situation. Denken Sie also an Ihren Kiosk, sorgt der Hippocampus für die zusätzlich erinnerten Eindrücke einer knisternden Zeitung, einem Lächeln und diesem wunderbar duftenden Cappuccino. Dass der Hippocampus zudem eine wichtige Rolle bei der Orientierung im Raum spielt, wissen wir durch die Forschung an Londoner Taxifahrern – um eine Stadt dieser Größe zu meistern, bedarf es laut einer berühmten Studie offenbar eines besonders großen Hippocampus.
Schauen wir nun wieder auf Zellebene: An Orientierung und Navigation sind ganz bestimmte Neurone beteiligt. Sie sitzen – das wissen wir alle spätestens seit der Vergabe des Nobelpreises an John O´Keefe – ebenfalls im Hippocampus und werden als „place cells“ bezeichnet, zu deutsch Ortszellen (Landvermesser im Gehirn). Diese werden aktiv, sobald Sie sich an einem ganz bestimmten Ort befinden.
Natürlich hat auch dieser Kiosk seine eigene, neuronale Vertretung im Hippocampus. Doch Ortszellen repräsentieren nicht nur eine bestimmte Koordinate im Raum – ihre Aktivität liefert auch kontextuelle Information zu Sachen, an die Sie sich erinnern. Verschwände ihr Cappuccino von der Karte, würde die entsprechende Ortszelle ihre Tätigkeit also auch verringern.
… und für Speck
Was Ihnen der Cappuccino, ist der Ratte der Speck: Während sie lernt, sich in einem Labyrinth zu orientieren, codieren ihre Ortszellen unterschiedliche Wegmarken: Hier eine Markierung an der Wand, dort ein Abzweig nach links, am Ende des Labyrinths endlich der Speck. Plötzlich ändert sich der Aufbau – nicht mehr der Abzweig nach links führt zum Speck, sondern der nächste Abzweig nach rechts.
Für die Ortzellen der Ratte – und für die Ihre, denn der alte Besitzer hat gerade seinen Kiosk zugemacht und Sie müssen nun zum Italiener am Rathaus – bedeutet das, dass die Zelle für den linken Abzweig nicht mehr aktiv sein muss. Stattdessen wird nun eine Ortzelle für den rechten Abzweig aktiv. Das passiert, wenn der Forscher das Labyrinth umgebaut hat: Er erwartet ein „remapping“ – eine Veränderung der Aktivität der Hippocampus-Neurone.
Hemmung ist gut
Hier der Haken: Die Ratte hat sich mit der Zeit an ihren Weg zum Speck gewöhnt. Und auch Sie mussten nicht mehr denken, als Sie Richtung Herderplatz und Cappuccino gingen. Denken müssen Sie jetzt, auf dem Weg zum neuen Cappuccino am Rathaus. Anfangs laufen Sie mehrfach die alte Strecke, um dann völlig überrascht vor einem Nichts zu stehen.
Und was passiert eigentlich mit dem Aktivitätsmuster der ersten Ortszelle? Verschwindet es völlig, sucht sich die Zelle einen anderen, erinnerungswürdigen Ort und der linke Abzweig versinkt im Nebel des Gedächtnisses? Würden Sie Ihren Kiosk vergessen? Oder wird das jeweilige Muster nur gehemmt und taucht wieder auf, sobald der linke Weg wieder zum Ziel führt? Diese Frage lässt sich aus der Suchtforschung relativ eindeutig beantworten: Der Trinker ist nur trocken, das alte Verhalten bleibt auf Stand-by, wird nur gehemmt und mit etwas Pech durch einen Rückfall wieder aktiv. Extinktionsforscher nennen das Renewal.
Denn das ist die Krux beim Umlernen: ehemals eingeprägtes Wissen zu ignorieren. Dieses wird durchaus auf mehr als nur eine Weise im Gehirn gespeichert. Stellen Sie sich einen Raucher vor, der pro Tag nur 10 Zigaretten raucht. Diese Zigaretten beschäftigen nicht nur das Suchtgedächtnis – auf´s Jahr gerechnet sind das 3.650 Mal die gleiche Bewegung, die stets ein Bedürfnis befriedigt. Diese Bewegung hat sich tief ins implizite Gedächtnis eingegraben und will jetzt plötzlich ignoriert werden, weil gerade mal Neujahr ist.
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Explizit erinnert
Denise Manahan-Vaughan und ihre Kollegen von der Ruhr-Universität Bochum untersuchen diese veränderte Zellaktivität beim Extinktionslernen und sie nutzen dazu die Ortszellen im Hippocampus. Dabei gehen sie selbst neue Wege, und das gleich mehrfach. Zum einen wurde Extinktion auf der mechanistischen Ebene der Zellprozesse bisher selten untersucht. Zum anderen verrät ein Blick in die Literatur zur Extinktionsforschung, dass es dort primär um besagte Sucht oder um Angststörungen geht – klinisch betrachtet natürlich aus gutem Grund, denn mögliche neue Therapien können das Leben vieler Patienten erleichtern.
Im Fall von Extinktionslernen bei Sucht und Angst geht es darum, ein bestimmtes nicht mehr angebrachtes, implizit erlerntes Verhalten zu unterdrücken. In diesem Fall ist die Rolle des Hippocampus bei der Kodierung des Kontextes beim Extinktionslernen recht gut erforscht. In der Bochumer Forschung geht es allerdings um explizites episodisches Lernen – um das Erinnern an den Weg, der zum Cappucino oder Speck führt. Und hier ist Extinktionslernen noch wenig erforscht.
Aktive Gehirnzellen
Es ist bekannt, dass allein das Erkunden einer Umgebung zu einer Langzeitpotenzierung, also einer Verstärkung bestimmter Synapsen (Lernen von Zelle zu Zelle) im Hippocampus führen kann – ein Prozess der an Synapsen stattfindet, die den Botenstoff Glutamat nutzen. Tauchen in der Umgebung neue räumliche Merkmale auf, können diese eine Langzeitdepression, also eine Abschwächung von Synapsen auslösen. Eine Hirnregion, die bei neuen Erfahrungen aktiv wird, ist der Locus coeruleus, der blaue Ort. Im Gehirn ist er der hauptsächliche Ursprungsort für Nervenfasern, die Noradrenalin als Botenstoff nutzen und von denen viele in den Hippocampus ziehen.
Das Team von Denise Manahan-Vaughan wies nun einen messbaren Effekt von Noradrenalin auf räumliche Lernvorgänge nach: Bekamen ihre Mäuse neue Objekte in den Käfig gelegt – wie Würfel oder Bälle –, zeigten sie eine Langzeitdepression, für die eine Ausschüttung von Noradrenalin notwendig ist. Ohne Noradrenalin war das Erlernen neuer Objekte in der Umgebung nicht mehr möglich.
Der veränderte Kontext kann also vermutlich über eine Langzeitdepression zuvor Erlerntes hemmen. Hemmen – nicht auslöschen. Extinktion beinhaltet also auch zu Lernen, wann welches Verhalten zu erfolgen hat, um zum richtigen Ziel zu kommen. Und so reanimieren sich dem Cappucinoliebhaber schnell wieder die alten, liebgewordenen Wege: Macht der alte Kiosk wieder auf, muss er nicht lange denken. Bleibt er geschlossen, aktiviert das den Locus coeruleus und neue Ortszellen im Hippocampus werden aktiv. Beides zusammen hemmt die lange vertraute Strecke „Kiosk“ und bewirkt stattdessen, dass Sie den Weg zum Italiener am Rathaus“ nehmen. Nach all diesem neuronalen Aufwand im Hintergrund hat sich Ihr Gehirn das Koffein wahrlich verdient!
zum Weiterlesen:
- Goh, J., Manahan-Vaughan, D.: Hippocampal long-term depression in freely behaving mice requires the activation of beta-adrenergic receptors. Hippocampus. 2013 Dec; 23(12):1299 – 1308 (zum Abstract).
- André MA, Güntürkün O, Manahan-Vaughan D.: The metabotropic glutamate receptor, mGlu5, is required for extinction learning that occurs in the absence of a context change. Hippocampus. 2015 Feb;25(2):149 – 58. doi: 10.1002/hipo.22359. Epub 2014 Sep 3 (zum Abstract).
- Wiescholleck, V. et al.: Early age-dependent impairments of context-dependent extinction learning, object recognition, and object-place learning occur in rats. Hippocampus. 2014 March; 24(3): 270 – 279 (zum Abstract).
- Wilson, A., Brooks, D.C., and Bouton, M.E. 1995. The role of the rat hippocampal system in several effects of context in extinction. Behav. Neurosci. 109: 828 – 836 (zum Abstract)