Die Evolution des menschlichen Gehirns

Grafik: MW
Primaten – Hominiden

Unser Gehirn ist viel größer als das unserer Vorfahren. Das liegt ganz zentral an den Eigenschaften und am Verhalten unserer Stammzellen im Kopf. Ein kleiner, aber gewaltiger Unterschied. Ein Interview mit Prof. Wieland Huttner.

Veröffentlicht: 01.01.2018

Niveau: leicht

Professor Wieland Huttner , Sie sind Direktor des Max-Planck-Instituts für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Seit vielen Jahren forschen Sie zur Frage, was das menschliche Gehirn von dem anderer Primaten unterscheidet. Was ist Ihre wichtigste Antwort darauf?

Das Gehirn der Gattung Homo ist im Laufe der Evolution der Primaten immer größer geworden. Diese neocortikale Expansion ist ein Markenzeichen der Entstehung des Menschen. Hat der Schimpanse noch ein Hirnvolumen von rund einem halben Liter, sind es beim erwachsenen Menschen fast anderthalb Liter.

Was ist der Grund für diesen großen Unterschied?

Dieser Unterschied hat seine Ursache in den so genannten neuralen Stammzellen. In unserem zerebralen Cortex, dem Sitz der höheren kognitiven Fähigkeiten, erzeugen diese Stammzellen mehr Neurone als im Schimpansen. Wir haben doppelt bis dreimal so viele Nervenzellen in der Großhirnrinde.

Macht dieses größere Gehirn uns zu geistig hochentwickelten Wesen?

Die kognitiven Fähigkeiten, die uns auszeichnen, wurden auch durch die Vergrößerung des Gehirns ermöglicht. Wir wissen das auch deshalb, weil es Mutationen in bestimmten Genen gibt, die dazu führen, dass – unglücklicherweise – Menschen mit der Hirngröße eines Schimpansen zur Welt kommen. Diese Personen sind mental stark retardiert. Aber sie sind immer noch viel klüger als Schimpansen. Das bedeutet erstens: Hirngröße ist eine Basis für unsere kognitiven Fähigkeiten. Zweitens: Es muss noch etwas Anderes geben, was uns intellektuell zum Menschen macht. Was das ist, ist unbekannt.

Nun ist die Gretchenfrage: Woher kommt dieses große Gehirn und das andere Verhalten der Stammzellen darin? Sie haben Antworten auf diese Frage im Genom gefunden.

Was uns vom Schimpansen unterscheidet, ist unter anderem das Gen ARHGAP11B , das vor circa fünf Millionen Jahren entstanden ist. Das war, kurz nachdem sich die Linie, die zum modernen Menschen führt, von der Linie getrennt hatte, die zum Schimpansen führt. Die Entstehung dieses Gens an sich ist aber noch nicht der Schlüssel zur Größe unseres Gehirns. Denn damals waren die Gehirne noch relativ klein. Dann ereignete sich in diesem Gen ARHGAP11B aber eine Punktmutation. Das heißt, ein einzelner Buchstabe in der Sequenz dieses Gens veränderte sich durch Zufall. Diese Punktmutation sorgt dafür, dass sich bestimmte Stammzellen im Gehirn vermehren und deshalb die Zahl der Nervenzellen drastisch zunimmt. Diese Punktmutation finden wir nicht nur beim modernen Menschen, sondern auch beim Denisova-Menschen und im Neanderthaler, also unseren nächsten, nicht mehr lebenden Verwandten. All diese Vertreter der Gattung Homo haben oder hatten ein Hirnvolumen von 1,3 bis 1,4 Liter.

Was war der Auslöser für diese folgenschwere Mutation?

Mutationen ereignen sich ständig im Genom der Zellen. Wir wissen nichts Genaues über die konkreten Umstände. Höchstwahrscheinlich war es Zufall...

Wie alt ist die Punktmutation genau?

Sie muss spätestens vor rund 500.000 Jahren passiert sein. Denn das war der Zeitpunkt, an dem sich die Linie, die zum Neanderthaler und Denisova-Menschen führte, und die Linie, die zu uns modernen Menschen führte, trennten. Genauer wissen wir es nicht. Eine so alte DNA kann mein Freund und Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie, Svante Pääbo, leider noch nicht sequenzieren. Je älter solche DNA ist, desto stärker ist sie beeinträchtigt und desto schwieriger ist es, diese zu dechiffrieren.

Was bewirkt die uns auszeichnende Punktmutation genau?

Sie verursacht, dass bestimmte Stammzellen im Gehirn mehr Neurone produzieren. In der Maus teilen sich diese basalen Stammzellen genau einmal in zwei Neurone. Dadurch bekommt man natürlich nicht so sehr viele Nervenzellen. Die basalen Stammzellen beim Menschen durchlaufen dagegen ganz viele Zyklen, in denen sie sich vermehren. Das ist der Grund, weshalb wir viel mehr cortikale Neurone haben als die Maus. Die Punktmutation in ARHGAP11B führt also dazu, dass sich die basalen Stammzellen massiv vervielfältigen.

Wie konnten sie das in Experimenten nachweisen?

Wir haben jenes punktmutierte Gen ARHGAP11B künstlich in den Neocortex von Mäuseembryonen eingebracht. Dann bilden sich in ihren Gehirnen viel mehr Neurone. Sie können sogar eine gefaltete Hirnrinde bekommen wie der Mensch – gewöhnlich ist ihre Hirnrinde glatt.

Bedeutet das Mehr an Neuronen im Menschen auch mehr unterschiedliche Eigenschaften, was erklären könnte, weshalb wir so viele Geistesgaben vom Lesen bis zum vorausschauenden Handeln haben? 

Ich denke schon, dass mehr Neurone in der Großhirnrinde, wenn sie denn richtig verschaltet sind, die kognitiven Fähigkeiten potentiell erhöhen. Aber es könnte außerdem sein, dass das menschliche Neuron etwas macht, was das Schimpansenneuron so nicht kann.

Wir sprechen über den Unterschied zwischen unserem Gehirn und dem des Schimpansen. Aber was unterscheidet uns auf kognitiver Ebene vom Neanderthaler?

Der Neanderthaler hatte ein Gehirn, das mindestens so groß war wie unseres. Er hatte weniger frontalen Cortex, aber die Neuronenzahl dürfte vermutlich ähnlich gewesen sein. Es muss etwas Anderes sein, was den entscheidenden Unterschied macht. Was das ist, danach suchen Svante Pääbo und wir.

Wir können einfach mehr über den Unterschied zu Menschenaffen sagen, weil wir deren cortikale Stammzellen in vivo untersuchen können. Und da gibt es noch andere Eigenschaften, die uns trennen…

Welche sind das?

2016 haben wir einen ganz spezifischen Unterschied in der Zellteilung der so genannten apikalen Stammzellen an im Labor erzeugten Minigehirnen von Schimpansen und Menschen gefunden: eine Verlängerung der Metaphase der Mitose. Das ist eine wichtige Phase in der Zellkernteilung, bevor die Chromosomen in die beiden Tochterzellen gezogen werden. Da lässt sich der Mensch fünfzig Prozent mehr Zeit. Wir wissen noch nicht genau, was das bedeutet. Das ist ein hochspezifischer Effekt.

Wenn Sie einmal für uns mutmaßen: Was könnte diese gemächlichere Zellteilung denn bewirken?

Eine wilde Spekulation: Wer langsamer ist, ist manchmal gründlicher. Vielleicht ist das bei der cortikalen Stammzellteilung auch so. Sprich: Die Fehlerrate bei der Verteilung des Erbmaterials könnte sinken.

Bedeutet das letztlich auch, dass der Faktor Zeit das menschliche Gehirn zu dem macht, was es ist?

So kann man es sagen. In diese Richtung deutet auch noch ein anderes Ergebnis unserer Forschung: Wir haben mathematisch modelliert, also am Computer nachgestellt, wie Neurone in verschiedenen Spezies entstehen. Das Muster der Stammzellteilungen in der Hirnrinde, die bei uns zu den 16 Milliarden Neuronen führt, würde auch zur geringeren Zahl an Neuronen in der Hirnrinde von Gorilla und Orang-Utan führen. Der Unterschied ist, dass bei uns die Entstehung von Nervenzellen ein paar Tage länger läuft. Das sorgt für die zwei bis dreifache Neuronenzahl in der menschlichen Großhirnrinde. Mit anderen Worten: Neben der Mutation in ARGHAP11B ist es die Verlängerung der Neurogenese, die das menschliche Gehirn hat größer werden lassen.

„Länger und langsamer“ – vermutlich sind all diese Prozesse genetisch geregelt, oder? Führt am Ende jede Suche nach den Markenzeichen unseres Gehirns ins Genom?

Ja, die Ursachen sind genomisch. Mit Sicherheit ist auch die Entstehung der Nervenzellen genetisch gesteuert. Aber wir haben noch keinen kompletten Überblick über das Netzwerk dieser Gene. Die Dauer der Neurogenese geht übrigens interessanter Weise mit der Dauer der Schwangerschaft einher. Die dauert bei uns 280 Tage und damit länger als beim Schimpansen mit 237 Tagen. Das bedeutet eine längere Phase der Entstehung von Neuronen in der menschlichen Hirnrinde.

Bedeutet das, dass Elefanten und Delfine noch mehr Neurone haben als wir, weil sie noch länger austragen?

Der Elefant hat eine längere Schwangerschaft, und er hat ein größeres Gehirn. Er hat allerdings nicht mehr Neurone, vermutlich, weil deren Produktion auf einem anderen Muster der cortikalen Stammzellteilungen beruht als bei den Primaten. Auch das Delfinhirn ist größer, hat aber auch nicht mehr Neurone.

Ein Unterschied zwischen menschlichem Gehirn und den Gehirnen anderer Säugetiere liegt auch in der Faltung der Hirnrinde…

Das stimmt. Wir haben uns die Faltung, wir sagen: Gyrifikation, von 102 Säugetieren einschließlich des Menschen angeschaut. Diese Säugetiere untergliedern sich in zwei wesentliche Gruppen, eine mit gar nicht oder nur gering gefalteten Gehirnen, wozu Mäuse und Koboldmakis (sehr kleine Primaten) zählen, und eine mit stark gefalteten Gehirnen wie etwa Delfine und Menschen.

Warum ist das so?

Bei den Spezies in der Gruppe mit stark gefalteten Gehirnen entsteht pro Schwangerschaftstag vierzehn Mal mehr Hirnmasse im Föten als in der anderen Gruppe. Das ist beträchtlich. Und wir haben gefunden, dass diese Arten darüber hinaus oft eine verlängerte Phase der Bildung von Nervenzellen haben.

Gibt es im Laufe der Evolution einen Trend zu immer stärker gefalteten Gehirnen?

Ja und nein. Bisher hatte man angenommen, dass die Faltung im Laufe der Evolution linear zugenommen hat. Das ist aber falsch. Zwar ist die Hirnrinde des Menschen stark gefaltet, aber nur unwesentlich stärker als die des Schimpansen. Das Ausmaß der Faltung hat im Laufe der Evolution der Säugetiere einerseits bei vielen Spezies im Vergleich zu ihren jeweiligen Vorläufern zugenommen, andererseits bei anderen Spezies aber auch abgenommen. Nehmen wir zum Beispiel den Weißbüschelaffen. Der Vorläufer hatte ein stärker gefaltetes Gehirn mit einem Faltungsindex von 1,46. Der Weißbüschelaffe hat aber nur 1,17. Der hat lediglich eine kleine Furche.

Was löst diese Veränderungen der Faltung aus?

Da sind wir dran. Es scheint, dass es zwei prinzipielle Faktoren gibt. Zum einen die Zunahme an Nervenzellen und zum anderen ein Interagieren der schon gebildeten Nervenzellen untereinander. Beides dürfte die Faltung begünstigen. Denn die Großhirnrinde ist praktisch wie ein dickes Blatt Papier. Damit sie in den Schädel hineinpasst, wenn sie viele Neurone umfasst, ist es günstiger, wenn sie gefaltet ist.

Wer in die Vergangenheit schauen kann, kann viel über die Zukunft sagen. Wird unser Gehirn nochmals einen Sprung in seiner Entwicklung erfahren?

Das stelle ich mir schwierig vor. Es ist kaum vorstellbar, dass sich eine einzige Mutation im Genpool von sechs Milliarden Menschen durchsetzt. Je größer eine Population, desto unwahrscheinlicher ist das. Das haben wir von Darwin gelernt. Die kleinen Populationen auf den Galapagos-Inseln konnten mutieren und neue Charakterzüge ausbilden. Aber wo haben wir noch abgeschiedene bewohnte Inseln ohne Reiseverkehr und Heiratsmigration? Menschen mit besonderen kognitiven Gaben entstehen natürlich andauernd, aber einen Sprung für die intellektuellen Fähigkeiten der gesamten Menschheit sehe ich aktuell eher nicht.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

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