Unbewusstes Denken statt sechsten Sinns

Grafik: MW
Unbewusstes Denken statt sechster Sinn

Intuition: eine mystische Eingebung, ein sechster Sinn oder gar die Stimme Gottes? Weit gefehlt! Psychologen sehen in der Intuition eine unbewusste Form der Informationsverarbeitung. Allerdings ist sie nicht immer hilfreich: Manchmal führt sie in die Irre.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Andreas Glöckner

Veröffentlicht: 22.01.2015

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • In den vergangenen Jahrzehnten haben Forscher Intuition als ernst zu nehmenden Forschungsgegenstand entdeckt und als unbewusste Quelle des Denkens aufgewertet.
  • Wissenschaftler verstehen unter Intuition Gefühle, sich in eine bestimmte Richtung zu entscheiden. Sie tauchen rasch im Bewusstsein auf, ihre Gründe hingegen sind uns nicht vollständig bewusst. Diese Gefühle seien aber oft stark genug, uns direkt danach handeln zu lassen.
  • Forscher vertreten unterschiedliche Ansichten, welche Denkprozesse der Intuition zugrunde liegen.
  • Einige Forscher nehmen an, dass Intuition auf einfachen Heuristiken basiert. Diese Faustregeln klammern die Mehrzahl der vorhandenen Informationen aus oder ersetzen relevante durch irrelevante Informationen, um schnelle Entscheidungen zu ermöglichen.
  • Es wurde nachgewiesen, dass Intuitionen zu Denkverzerrungen führen können. Ob Intuition zu guten oder schlechten Entscheidungen führt, kann aber nicht pauschal beurteilt werden.
  • Wie intuitive Entscheidungen gelingen können, zeigt sich unter anderem am Beispiel beruflichen Handelns, etwa wenn eine Krankenschwester frühzeitig eine Infektion bei einem Patienten erkennt und Alarm schlägt. Diese intuitiven Entscheidungen beruhen auf viel Erfahrung und Wissen.

„Sie ist am liebsten außer sich und mag es, voreilige Schlüsse zu ziehen“: Diese Worte eines amerikanischen Komikers galten ursprünglich einer Frau, die er nicht sonderlich gut leiden konnte. Für den israelisch-​amerikanischen Psychologen und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman passen diese Worte auch sehr gut zur Intuition: Denn die Intuition erachtet Kahneman nicht gerade als Garant für fundierte Entscheidungen.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass hier Daniel Kahneman eine Frau ins Spiel bringt. Immerhin besagt ein altes Vorurteil, dass vor allem Frauen eine Begabung für die Intuition hätten. Seit der Epoche der Aufklärung gilt uns die Vernunft mehr als die Intuition. Und auch Frauen standen lange Zeit im Schatten der Männer und mussten mit dem Vorurteil kämpfen, Logik und Denken seien nicht ihre Sache.

Bei der Stellung und dem Ansehen der Frauen hat sich mittlerweile einiges getan. Der Ruf der Intuition dagegen bleibt zweifelhaft: Esoteriker deuten die Intuition nach wie vor als etwas Mystisches und in der Gesellschaft hat sie noch nicht den Ruf, etwas zu sein, das wissenschaftlich erklärt werden kann. Dabei hat die Wissenschaft die Intuition (von dem lateinischen Wort intueri für ansehen, betrachten) inzwischen als einen ernst zu nehmenden Forschungsgegenstand entdeckt und zu einer Form des unbewussten Denkens aufgewertet. Wie die Intuition genau funktioniert, darüber streiten die Experten noch heute.

Gerd Gigerenzer vom Max-​Planck-​Institut für Bildungsforschung in Berlin macht in seinem Buch „Risiko – Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ deutlich, was Intuition jedenfalls nicht ist: „Eine Intuition ist weder eine Laune noch ein sechster Sinn, weder Hellseherei noch Gottes Stimme. Sie ist eine Form der unbewussten Intelligenz.“ Die Annahme, Intelligenz sei notwendigerweise bewusst und überlegt, sei ein Riesenirrtum, so der Psychologe und Risikoforscher. Intuition ist für Gigerenzer gleichbedeutend mit einer Bauchentscheidung: Statt dass wir uns den Kopf zerbrechen, haben wir ein Gefühl im Bauch (Entscheidend: Bauchgefühl oder Verstand?). Dieses Bauchgefühl ist so stark und es taucht so rasch im Bewusstsein auf, dass wir uns auf dieses Gefühl verlassen und nach diesem entscheiden – auch wenn uns die Gründe für das Gefühl nicht näher bekannt sind.

Gigerenzer vertritt die Position, dass intuitive Entscheidungen auf so genannten Heuristiken basieren, welche auch das Geheimnis des Erfolgs von Intuition ausmachen. Heuristiken sind gewissermaßen Faustregeln. Sie gründen nur auf wenigen Informationen und klammern einen großen Teil der vorhandenen Informationen aus, um zu besseren Urteilen zu kommen. Laut Gigerenzer haben diese oft die Struktur, dass man sich nur auf die zuverlässigste Information stützt und alles andere ignoriert. Wenn beispielsweise ein Baseball-​Spieler versucht, einen vom Gegner hoch geschlagenen Ball zu fangen, berechnet er dann genau die Flugbahn des Balls? Berücksichtigt er die Anfangsentfernung, die Geschwindigkeit und den Winkel des Balls, den Wind und den Luftwiderstand? Selbstverständlich nicht! Der Baseball-​Spieler greift laut Gigerenzer meist unbewusst auf eine Heuristik, eine Faustregel, zurück: Fixiere den Ball und passé deine Laufgeschwindigkeit so an, dass dein Blickwinkel konstant bleibt. Solche Faustregeln könnten es uns ermöglichen, blitzschnell und intuitiv zu entscheiden und zu handeln. Dass die von Gigerenzer vorgeschlagenen Heuristiken tatsächlich die der Intuition zugrunde liegenden Prozesse der Informationsbearbeitung beschreiben, ist allerdings empirisch nicht zweifelsfrei belegt. Zum Beispiel müssten die Mechanismen, die der Ballfang-​Heuristik zugrunde gelegt werden, deutlich komplexer sein, haben andere Forscher bereits vor Jahren gezeigt.

Intelligenz

Intelligenz/-/intelligence

Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-​Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-​Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-​linguistisch, logisch-​mathematisch, musikalisch-​rhythmisch, bildlich-​räumlich, körperlich-​kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.

Schnelles Denken, langsames Denken

Ein anderes und teilweise pessimistischeres Bild der Intuition zeichnet der eingangs erwähnte Daniel Kahneman. Der Wirtschaftsnobelpreisträger unterscheidet in seinem Besteller „Schnelles Denken, langsames Denken“ zwei Systeme des Verstandes, die er wie zwei Akteure in seinem Buch auftreten lässt. Der erste Akteur – das unbewusste System – arbeitet automatisch, schnell und ohne willentliche Steuerung. Es kommt etwa zum Zuge, wenn man die Feindseligkeit aus einer Stimme heraushört oder auf einen Blick sieht, was „2+2“ ergibt. Der zweite Akteur – das bewusste System unseres Verstandes – ist hingegen mehr der akribische Typ. Es stellt komplizierte Berechnungen an und kann eine wohlüberlegte Wahl zwischen verschiedenen Optionen treffen, etwa wenn man zwei Waschmaschinen auf das bessere Preis-​Leistungs-​Verhältnis hin vergleicht. Der Preis ist allerdings: Die Tätigkeiten des bewussten Systems erfordern Aufmerksamkeit. Auf das Waschmaschinen-​Problem muss man sich konzentrieren und von daher kann das bewusste System nicht mehrere Aufgaben gleichzeitig bewältigen. Außerdem kostet das sorgfältige Kalkulieren und Abwägen Zeit und das Gedächtnis kann nur eine begrenzte Menge von Informationen gleichzeitig bewusst verarbeiten.

Nach Kahneman gibt es daher durchaus gute evolutionäre Gründe für das flinke unbewusste System Das Unbewusste ist wohlinformiert: „Es erhöhte die Überlebenschancen, wenn man die schwerwiegendsten Bedrohungen oder die vielversprechendsten Gelegenheiten schnell erkannte und umgehend darauf reagierte.“ Selbst beim modernen Menschen übernehme heute noch das unbewusste System die Kontrolle, wenn Gefahr droht. Wenn vor Ihnen auf der Straße ein Auto überraschend bremst, werden Sie merken: Sie reagieren, bevor Ihnen die Gefahr überhaupt richtig bewusst geworden ist.

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit/-/attention

Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Kognitive Fallstricke

Normalerweise arbeitet das automatische unbewusste System zuverlässig. Das möchte auch Kahneman keineswegs bestreiten. Doch in jahrzehntelanger Forschung hat er auch gezeigt, wie die Intuition immer wieder in kognitive Fallen tappt und Denkverzerrungen zum Opfer fällt Verzerrtes Bauchgefühl. Ähnlich wie Gigerenzer geht Kahneman dabei davon aus, dass einfache Heuristiken der Intuition zugrunde liegen. Allerdings hat Kahneman in seinen Arbeiten andere Heuristiken als Gigerenzer formuliert. Kahneman zufolge würden die eigentlich für die Lösung einer Aufgabe relevanten Informationen durch irrelevante Informationen ersetzt, nämlich durch eine Information, die im Gedächtnis besonders leicht zugänglich ist. Versuchen Sie beispielsweise einmal die folgende Aufgabe zu lösen:

Ein Schläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Euro.
Der Schläger kostet einen Euro mehr als der Ball.
Wie viel kostet der Ball?

Wahrscheinlich schießt Ihnen intuitiv sofort eine Antwort in den Kopf: 10 Cent. Der Gedanke ist verführerisch, aber leider falsch, wie exaktes Nachrechnen ergibt. Wenn der Ball 10 Cent kostet und der Schläger 1 Euro mehr – also 1,10 Euro –, dann kostet beides zusammen schon 1,20 Euro. Die richtige Antwort lautet 5 Cent. Für Kahneman stellt dieses Beispiel einen Fall dar, wo schnelle intuitive Prozesse in die Irre führen, besonders wenn das bewusste System einer seiner Aufgaben nicht nachkommt: Eigentlich soll es nämlich die blitzschnellen „Vorschläge“ des unbewussten Systems einer kritischen Prüfung unterziehen.

Des Öfteren versagt das bewusste System nicht nur in seiner Kontrollfunktion. Es neigt auch gerne einmal dazu, den Entscheidungen unseres unbewussten Systems im Nachhinein einen rationalen Anstrich zu verpassen. Etwa wenn man ein Projekt aus vermeintlich guten Gründen optimistisch einschätzt, für das man in Wirklichkeit vor allem Sympathien hegt, weil die Projektleiterin einen an die geliebte Schwester erinnert. „Doch wenn man Sie nach einer Erklärung fragt, werden Sie Ihr Gedächtnis nach plausiblen Gründen durchforsten und mit Sicherheit einige finden“, erläutert Kahneman in seinem Buch. Letztlich entstehen im unbewussten System Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquelle der expliziten Überzeugungen und Entscheidungen des bewussten Systems bilden. Die Intuition kann dann auch zu Vorurteilen führen: Jemand beurteilt andere Menschen schnell – und mitunter moralisch vorschnell Entscheidend: Bauchgefühl oder Verstand?.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Auch gute Intuitionen haben lange Vorlaufzeit

Wie hilfreich ist die Intuition also letztlich bei Entscheidungen und wo versagt sie? In einem Fachaufsatz filterten Daniel Kahneman und Gary Klein von der Firma Applied Research Associates die Bedingungen erfolgreicher beruflicher Intuitionen aus Jahrzehnten empirischer Forschung heraus. Bemerke etwa eine Krankenschwester intuitiv eine Infektion bei einem Neugeborenen, gelingt ihr das nur, weil ihre berufliche Umwelt stabil sei und zuverlässige Hinweise zu der jeweiligen Situation liefere. Bei einem Neugeborenen gebe es häufig frühe Anzeichen einer Infektion, die eine Krankenschwester im Laufe der Zeit erlernen könne. Zudem erhalte sie ein schnelles und eindeutiges Feedback, ob sie mit ihrer Intuition richtig gelegen hat.

„Ob intuitive Entscheidungen erfolgreich sind, hängt davon ab, ob sie auf genügend Erfahrung beruhen“, sagt auch der Psychologe Henning Plessner von der Uni Heidelberg. „Intuition beruht auf viel Wissen und bewusster Erfahrung. In der Entscheidungssituation selbst denkt man dann nicht mehr viel nach.“ Die Position, dass Intuition auf unbewussten Prozessen der Informationsverarbeitung basiert, die es Menschen erlauben, eine Vielzahl von Informationen und Erfahrungen gleichzeitig zu berücksichtigen, wird inzwischen von vielen Intuitionsforschern geteilt.

Die in den komplexeren Modellen hervorgehobene Rolle von auf Erfahrungen basierendem Wissen bedeutet aber auch: Intuitionen, die nicht auf viel Erfahrung beruhen, sollte man eher misstrauisch begegnen: Damit man keine voreiligen Schlüsse zieht. Egal, ob man nun – wie in dem Spruch des US-​Komikers über die unliebsame Person – eine Frau oder ein Mann ist.

zum Weiterlesen:

  • Gigerenzer, Gerd: Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft. München, 2013.
  • Kahneman, Daniel: Schnelles Denken, langsames Denken. München, 2011.
  • Kahnemann D, Klein G: Conditions for intuitive expertise: a failure to disagree, Am Psychol, (2009). Sep;64(6):515 – 26. doi: 10.1037/a0016755. (zum Abstract).
  • Glöckner, Andreas, Witteman, C. L. M. (Hrsg.). Foundations for tracing intuition: Challenges and Methods. Psychology Press & Routledge, London, 2010.

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