SARS-CoV-2: Ein Virus, das aufs Gehirn schlägt

Grafik: MW
Autor: Michael Simm

Es befällt die Lunge, schädigt aber auch Gehirn und Psyche. Wie das Coronavirus SARS-CoV-2 seine Wirkung im Nervensystem entfaltet, war lange unbekannt, aber langsam lichtet sich der Vorhang.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Martin Korte

Veröffentlicht: 02.05.2023

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • Covid-19 gilt als Erkrankung der Atemwege. Doch einige Patienten leiden auch an vielfältigen neurologischen Symptomen: vom Delirium, über den Verlust des Geruchssinnes oder Gedächtnisproblemen bis hin zu Fatigue, Depressionen oder Angststörungen. 
  • Betroffene, die bereits vor ihrer Covid-19-Infektion psychiatrische oder neurologische Beschwerden hatten, reagieren womöglich empfindlicher und haben häufiger mit Spätfolgen der Viruserkrankung zu kämpfen.
  • Einige Studien weisen auch darauf, dass Entzündungsreaktionen des Körpers eine entscheidende Rolle spielen könnten. Die Gabe von anti-entzündlichen Substanzen wie Kortison kann dem entgegenwirken.

Seit Herbst 2019  Jahren hält ein mysteriöses Virus aus China die Welt in Atem. Wie es genau entstanden ist, ob es aus Fledermäusen oder Schuppentieren auf den Menschen übergesprungen ist oder gar einem Laborunfall entstammt, wird sich wohl nicht mehr mit Sicherheit aufklären lassen. Tatsache ist: Das „Severe acute respiratory syndrome coronavirus typ 2“ – abgekürzt SARS-CoV-2 und allseits bekannt als „Coronavirus“ – hat einen Großteil der Weltbevölkerung infiziert. Nach  Schätzungen  starben allein in den ersten beiden Jahren der Pandemie 15 Millionen Menschen sowohl direkt an der Atemwegserkrankung COVID-19 als auch durch „Kollateralschäden“ wie den teilweisen Ausfall von Krankenhäusern und Ärzten. Der weltweite Trend zu einer immer längeren Lebenserwartung wurde nach mehr als 100 Jahren gebrochen – lediglich die Influenza-Pandemie von 1918 hat noch massivere Verheerungen angerichtet.

Das Virus ist verschwunden, die Beschwerden bestehen

Nun richtet sich der Blick auf die Überlebenden. Während nämlich die meisten Infizierten die akuten Krankheitsbeschwerden wie Fieber, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Atemnot nur etwa eine Woche lang verspüren, scheint das Virus bei annähernd jedem Zehnten länger anhaltende Spuren zu hinterlassen. Die gesundheitlichen Langzeitfolgen einer Covid-19-Infektion, auch bekannt als „Long Covid“, sind vielfältig. Zu den häufigsten Beschwerden zählen neben Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkter Belastbarkeit (Fatigue) auch Kurzatmigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Schlafstörungen sowie Muskelschwäche und -schmerzen. Zudem klagen einige Betroffene über psychische Probleme wie depressive Symptome und Ängstlichkeit sowie Störungen von Geschmack und Geruch.

Aber wie kann das sein, wo bei den Betroffenen doch selbst mit den genauesten Nachweismethoden weder Proteine noch Erbsubstanz des Erregers nachweisbar sind?

„Eigentlich” ist COVID-19 eine Atemwegserkrankung. SARS-CoV-2 wird oft durch Niesen verbreitet, dringt in Mund oder Nase, gelangt in den Rachen und die oberen Atemwege, wo es an den Rezeptoren von Schleimhautzellen andockt, in diese eindringt, und sich dort vermehrt. Ärzte konzentrieren sich deshalb bei schweren Verläufen darauf, Schäden an der Lunge und am Kreislaufsystem zu verhindern und zu behandeln. Aber sie bemerkten bereits zu Beginn der Pandemie auch Anzeichen dafür, dass bei vielen Patienten das Nervensystem ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen war. Einige Betroffene fielen in ein Delirium: Sie waren verwirrt, orientierungslos und agitiert. Viele beklagten den Verlust des Geruchssinnes oder Gedächtnisprobleme, andere waren ständig müde, depressiv, oder wurden von Angststörungen geplagt.

Als einer der Ersten sammelte Benedict Michael, Neurologe an der Universität von Liverpool, systematisch Fallberichte zu neurologischen Komplikationen bei COVID-19.  Im Oktober 2020 berichtete er  über 125 solcher Ereignisse. Fast zwei Drittel dieser Patienten hatten demnach Schlaganfälle oder Hirnblutungen erlitten, die anderen waren verwirrt, über längere Zeit bewusstlos oder psychotisch. Der Schwachpunkt dieser Erhebung besteht allerdings darin, dass Michael seine Kollegen aufgerufen hatte, Auffälligkeiten zu melden, und dass kein systematischer Vergleich zwischen infizierten und nicht infizierten Patienten erfolgte.

Von Fallsammlungen zu Riesen-Studien

Neben einer großen Zahl von organischen Erkrankungen, Giften und Unfallfolgen sind Viren und Bakterien nur ein möglicher Faktor bei der Schädigung von Gehirn und Nervensystem. Vergleicht man jedoch COVID-19 mit anderen infektiösen Erkrankungen der Atemwege, so ist das Risiko neuropsychiatrischer Folgen mit SARS-CoV-2 offenbar erhöht.  Dies fanden Forscher der Universität Oxford heraus , nachdem sie Versicherungsdaten von drei Millionen US-Patienten verglichen hatten. Dabei waren nach COVID-19 kognitive Defizite, Demenzen, psychotische Störungen und Epilepsie über einen Zeitraum von zwei Jahren länger nachweisbar als beispielsweise nach schweren Erkältungen oder Influenza. Gemüts- und Angststörungen waren unter SARS-CoV-2 ebenfalls auffällig – ihre Häufigkeit ging allerdings binnen zweier Monate auf die Ausgangswerte zurück.

Bei Kindern fanden sich nach COVID-19 im Vergleich zu anderen Atemwegsinfektionen bis zu doppelt so häufig vorübergehende Denkstörungen und Schlaflosigkeit, Blutungen im Gehirn und Schlaganfälle, Erkrankungen der Nerven und Nervenwurzeln, psychotische Störungen und Epilepsie.

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung war, dass die Varianten von SARS-CoV-2 unterschiedlich gefährlich sind. Beispielsweise nahm die Komplikationen und auch die Sterblichkeit mit dem Aufkommen der Delta-Variante deutlich zu. Mit der Verbreitung der Omikron-Variante ging die Mortalität zwar ebenso deutlich wieder zurück, die Häufigkeit neurologischer und psychiatrischer Langzeitfolgen (Long Covid genannt) änderte sich kaum.

Alles nur Einbildung?

Für große Entrüstung sorgte Professor Christoph Kleinschnitz von der Klinik für Neurologie der Universität Essen mit einer  Studie an 171 Patienten , die er in einer speziellen post-COVID-Ambulanz mit seinem Team untersucht hatte - einschließlich Blutproben, Nervenwasserentnahme und Bildgebung mithilfe der Magnetresonanztomografie. In 9 von 10 Fällen wurde allerdings nichts Konkretes gefunden. Zudem war unter den post-COVID-Patienten – wie auch  in einer anderen Studie  – ein relativ hoher Anteil bereits früher psychiatrisch auffällig gewesen. Nachdem Kleinschnitz als häufiger Gast in Talk-Shows beim Post-COVID-Syndrom „vornehmlich psychosomatische Ursachen“ ausgemacht hatte, wurde er in der Laienpresse, aber auch von Kollegen heftig kritisiert. Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie etwa betonte deren Generalsekretär Professor Peter Berlit, dass es sich bei neurologischen Beschwerden nach Covid-19 keineswegs um eine eingebildete Krankheit handele. Dass Menschen, die bereits früher psychische Probleme hatten, ein erhöhtes Risiko für Long Covid haben, lässt sich ebenso gut damit erklären, dass ihre Gehirne verletzlicher sind, wenn das Immunsystem durch das Virus getriggert wird.

„Die genauen pathophysiologischen Mechanismen des Post-COVID-19-Syndroms sind bislang noch unbekannt“, heißt es zwar in der  Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie . Die Suche nach den Mechanismen der Nervenschäden infolge von COVID-19 ist aber in vollem Gange.

Das Immunsystem als Mediator von Nervenschäden

Ausgehend von den Atemwegen kommt es vermutlich zur vermehrten Bildung von Chemokinen und anderen Botenstoffen, die ins Gehirn gelangen und dort eine Neuroinflammation verursachen. Nun werden offenbar die hirneigenen Immunzellen (Mikroglia) aktiv und führen zu einem Durcheinander bei der Kommunikation zwischen verschieden Nervenzelltypen und Hirnregionen. Die Neubildung von Myelin wird unterbrochen, die Plastizität verändert und die Neurogenese im Hippocampus gestoppt – so beschreiben es Michelle Monje, Professorin für Neurologie und Neuroonkologie an der Stanford Universität und ihre Kollegin Akiko Iwasaki (Universität Yale)  in einem Übersichtsartikel .

Schließlich funktionieren manche Nervenschaltkreise nicht mehr richtig, es kommt zu Denkstörungen und die geistige Leistungsfähigkeit lässt nach. Diese Patienten können eine ganze Sammlung von Krankheitszeichen entwickeln, eine Kombination von Verwirrung, Kopfschmerzen und Problemen mit dem Kurzzeitgedächtnis, die als „Brain Fog“ (Hirnnebel) beschrieben wird. Aus der Grundlagenforschung ergeben sich auch mehrere Ansätze für neue Therapien, schreiben Monje und Iwasaki. Die Vermutung der Forscher, dass anti-entzündliche Stoffe wie Kortison neurologische Komplikationen bei COVID-19 lindern könnten, hat sich sogar schon bewahrheitet. Allerdings haben Ärzte diese Entdeckung schon sehr früh in der Pandemie gemacht, ganz ohne Grundlagenforschung, durch schlichtes Ausprobieren der plausiblen Optionen.

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