Können wir Gehirne kurieren?
Eine Reise zurück in die Geschichte der Hirnforschung erleichtert den Blick in die Zukunft der Therapie von Parkinson, Epilepsie und Tumoren. Neurologie und Hirnforschung haben zusammen viel erreicht. Doch die Wissenschaft steht auch immer mehr unter Druck.
Veröffentlicht: 24.02.2015
Niveau: mittel
- Das klinische Fach der Neurologie hat sich Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt.
- Einen Durchbruch bei der funktionalen Gliederung des Gehirns stellen die nichtinvasiven Methoden der Bildgebung dar.
- Viele Lei stungen ergeben sich erst aus der Zusammenschaltung systemspezifischer Elemente des Gehirns.
- Der Mensch kann seit maximal 150 000 Jahren sprechen, seit maximal 3000 Jahren schreiben. Er forscht seit etwa 200 Jahren über das Gehirn und hat besonders in den vergangenen 100 Jahren in der Nervenheilkunde viel erreicht.
- In der philosophischen Einordnung dieser Entwicklungen sind wir deutlich zurückgeblieben.
Prof. Dr. Johannes Dichgans war von 1978 bis 2005 Direktor der Neurologischen Klinik an der Universität Tübingen. Schwerpunkte seiner Forschung sind die klinische Neurophysiologie, neurodegenerative Erkrankungen und die Pathophysiologie des Kleinhirns. Sein wissenschaftlicher Einsatz und seine strukturreformerischen Vorstellungen waren entscheidend für die Gründung des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung in Tübingen, dessen erster Direktor er wurde. Er leitet den Senat am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
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Voraussetzung für die Nervenheilkunde ist Hirnforschung, das heißt die Kenntnis vor dem Aufbau und den Funktionen des Nervensystems. Die Hirnforschung hat uns gezeigt, dass Wahrnehmen, Handlungsplanung und Handeln, Bewusstsein, Gedächtnis, Lernen, Sprache, Urteilsvermögen, Geist und Freiheit ihren Sitz im Gehirn haben. Unser Hirn befähigt uns zu sittlichem Handeln in Verantwortung. In unserem Gehirn entsteht das Ich-Empfinden, und dort verorten wir die Seele, allerdings ohne zu wissen, was das ist.
Diese uns einleuchtenden Feststellungen sind eine späte Erkenntnis in der Menschheitsgeschichte. So hat Aristoteles geglaubt, das Herz stelle das Zentrum des Empfindens dar. Zwar gab es auch bei den Griechen hirnanatomische Befunde und Vorstellungen über die Wichtigkeit des Gehirns, doch blieben diese umstritten. Auch den Ägyptern galt das Herz als Sitz der Seele und aller geistigen Fähigkeiten. Das Gehirn wurde bei der Mumifizierung ihrer Toten bedenkenlos durch Absaugen über die Nase entfernt. In der Renaissance wurde der Aufbau des Gehirns bei Toten untersucht, wie zum Beispiel in den anatomischen Zeichnungen von Leonardo da Vinci zu sehen ist, doch blieben die Funktion und Bedeutung des Gehirns unklar. Erst seit dem 18. Jahrhundert standen Methoden zur Verfügung, um experimentelle Erkenntnisse über die Funktionen des Gehirns zu gewinnen, und konnte durch Luigi Galvani die Leitung von elektrischen Impulsen in Nerven bestätigt werden. Der größte Teil des heutigen Wissensstandes zur Hirnanatomie und Neurophysiologie wurde etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erworben. Erst dann begannen die systematische Hirnforschung an Tieren und Beobachtungen von Kranken und Verletzten.
Es dauerte entsprechend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, bis sich das klinische Fach Neurologie entwickelte. Das erste neurologische Lehrbuch stammt aus dem Jahr 1840, der erste neurologische Lehrstuhl wurde 1919 in Heidelberg eingerichtet. Erst seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es erste kontrollierte Therapiestudien, die das Prinzip der Behandlung nach den persönlichen Beobachtungen einzelner einflussreicher Mediziner ablösten.
Die Entwicklung der Neurologie beruhte und beruht nach wie vor auf der Entfaltung der Hirnforschung und auf den Quantensprüngen ihrer Erkenntnisse, die sie oft durch die Entwicklung neuer Methoden erfährt. Ein Beispiel ist die Zuordnung von Funktionen des Gehirns zu spezifischen Orten der Hirnrinde: Der deutsche Anatom Franz Josef Gall fand im 18. Jahrhundert mit der Idee einer funktionellen Gliederung des Hirns als Erster allgemeines Gehör, wobei seine Hirnkarten sehr unpräzise, großenteils völlig falsch und die Beziehung zu Schädelformen absurd war. Präziser, aber oft auch irrtümlich waren dann die Hirnkarten von Kleist (1934), der sie nach Symptomen von Hirnverletzungen oder Schlaganfällen erstellte. Den Durchbruch stellten dann die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden, nichtinvasiven Methoden der Bildgebung des Gehirns dar. Zu nennen ist dabei vor allem die funktionelle Kernspintomographie (fNMR) und die Positronenemissionstomographie (PET). Diese ermöglichten genaue Karten für die Lokalisation von Funktionen wie Bewegung, Sehen, Hören, Sprechen und sind wichtige Voraussetzungen für die großen Fortschritte der modernen Hirnchirurgie, die heute ein radikaleres und zugleich schadloseres Operieren zum Beispiel von Hirntumoren erlaubt.
Neben der Entwicklung neuer Methoden bleibt jedoch die präzise Analyse von Funktionsdefiziten nach Hirnverletzungen ein klassischer Schlüssel für die Lokalisation von Hirnfunktionen und die therapeutischen Grenzen der Neurologie. Als Beispiel sei der in der Medizingeschichte unter der Namensabkürzung HM bekannte Patient genannt, dem zur Behandlung seiner schweren Epilepsie beidseits die Hippocampus-Areale entfernt wurden und der daraufhin eine „anterograde Amnesie“ hatte: Er war nicht mehr fähig, sich an jüngste Ereignisse zu erinnern, während beispielsweise das Gedächtnis für weit zurückliegende Ereignisse und seine motorische Lernfähigkeit erhalten blieb. Seither wissen die Hirnforscher um die Bedeutung des Hippocampus für spezifische Gedächtnisfunktionen und wissen die Neurochirurgen, dass der Hippocampus allenfalls einseitig entfernt werden darf, wenn er Ausgangsort eines mit Medikamenten nicht zu unterdrückenden Anfallsleidens ist.
Das andere Beispiel ist der amerikanische Eisenbahnarbeiter Phineas P. Gage, dem am 13. September 1848 bei einer Sprengung eine Eisenstange durch den Schädel schoss und große Teile des Stirnhirns, den sogenannten orbitofrontalen und präfrontalen Cortex, zerstörte. Gage überlebte nicht nur den Unfall ohne Lähmungen und Sinnesausfall (mit Ausnahme des zerstörten linken Auges), sondern hatte nach wenigen Wochen wieder seine intellektuellen Fähigkeiten, einschließlich Wahrnehmung, Gedächtnis, Intelligenz und Sprechfähigkeit. Aber aus dem besonnenen, freundlichen und ausgeglichenen Gage war ein kindischer, impulsiver, unzuverlässiger und respektloser Mensch geworden, der nicht mehr als Vorarbeiter tragbar war. Seither wissen die Hirnforscher, dass soziales Verhalten und sittliches Urteil schwerpunktmäßig dem orbitofrontalen Cortex zugeordnet werden können, und wissen die Neurologen, wo sie Störungsursachen bei solchen Wesensänderungen suchen können.
Allerdings sind nicht alle Hirnleistungen auf eng umgrenzte Hirnregionen begrenzt. Sie ergeben sich oft aus der Zusammenschaltung systemspezifischer Elemente des Gehirns. Als Beispiel seien die unbewussten Bewegungen wie das Gehen, die Mitbewegungen und die Mimik genannt, die durch das Zusammenwirken verschiedener Hirnsysteme erfolgen und mit dem Begriff des extrapyramidal-motorischen Systems bezeichnet werden. Die Parkinson– Erkrankung ist ein Prototyp der Störung dieses Systems und zudem ein Beispiel, wie die Ergebnisse der Hirnforschung Schritt für Schritt zu neuen Therapien in der Neurologie geführt haben.
Lange wusste man von dem funktionellen Netzwerk wenig und hatte weder die beteiligten Nervenzellen identifiziert, noch die Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, und ihre Botenstoffe, die Transmitter, charakterisiert. Bis 1860 konnte man die stetig progrediente neurodegenerative Parkinson-Erkrankung nicht behandeln, dann wurden die Belladonna-Alkaloide als Extrakte aus der Tollkirsche gefunden und auf rein empirischer Grundlage vor allem gegen das Zittern erfolgreich angewandt. Erst die Entdeckung der Beteiligung von Dopa als einem entscheidenden Transmitter im Netzwerk erlaubte es ab 1960, den bei der Parkinson-Erkrankung verminderten Botenstoff durch die Gabe einer die Blut-Hirn-Schranke passierenden Vorstufe zu ersetzen und damit eine entscheidende Besserung der Krankheitssymptome zu erreichen. Dopa ist bis heute ungeschlagen wirkungsvoll, wenn auch langfristig häufig mit Wirkungsschwankungen, unwillkürlichem Zappeln (Hyperkinesen) und Halluzinationen belastet.
Die Behandlung mit Neurotransmittern hat aber ihre Grenzen: Bei der Schizophrenie führt die gestörte Aktivität des mesolimbischen Systems, bei dem Dopamin ebenfalls einer der wichtigsten Transmitter ist, zu Wahn, Halluzinationen oder illusionären Verkennungen. Die Behandlung der Halluzinose mit dopamin-antagonistisch wirkenden Mitteln ist erfolgreich, erzeugt als Nebenwirkung aber Symptome eines Parkinson-Syndroms. Umgekehrt kann die Behandlung der Parkinson– Erkrankung mit L-Dopa oder seinen Agonisten zu Halluzinationen führen. So haben wir durch die Behandlung mit Agonisten oder Antagonisten von Transmittern generell Schwierigkeiten zu erwarten, weil dieselben Botenstoffe in unterschiedlichen Systemen des Gehirns eingesetzt werden. Ob es gelingt, durch Rezeptorspezifitäten die Zahl der simultan angesprochenen Systeme und damit die Nebenwirkungen klein zu halten, bleibt abzuwarten. Wir erfahren dabei die Grenzen dieser Behandlungsmöglichkeit.
Der genauen Kenntnis der Verschaltung im Netzwerk der extrapyramidalen Motorik verdanken wir die neuesten Entwicklungen der Parkinson-Therapie durch die tiefe Hirnstimulation seit 1991. Dabei wird eine Art Schrittmacher unter die Haut eingepflanzt. Er versorgt Elektroden, die durch die Schädeldecke ins Gehirn in den Nucleus subthalamicus abgesenkt werden, diesen Kern stimulieren und so die Inbalance im extrapyramidalen System vermindern. Es fehlt aber noch der entscheidende Schritt: Die Ursachen der Erkrankung sind immer noch unbekannt. Genveränderungen dürften nur für seltene familiäre Parkinson-Erkrankungen verantwortlich sein. Für die übrigen sucht man nach lebensgeschichtlichen Risikofaktoren, von denen wir bislang wenig wissen.
Viele Erkrankungen des Gehirns sind Erkrankungen des Alters. So ist auch für die Parkinson-Erkrankung das zunehmende Alter ein Hauptrisikofaktor. Vermutlich würde die Kenntnis der dem Altern zugrundeliegenden Mechanismen erheblich zum Verständnis vor allem der neurodegenerativen Erkrankungen, wie der Alzheimer-Erkrankung, beitragen. So wissen wir erst seit einigen Jahren, dass die systemspezifische Degeneration der neuronalen Systeme mehrere Jahrzehnte vor der klinischen Manifestation beginnt. Bei der Parkinson-Erkrankung sind dann in einem spezifischen Gebiet des Gehirns, der Substantia nigra, fast siebzig Prozent der Nervenzellen zugrunde gegangen und ist die im Gehirn offensichtlich vorhandene Reservekapazität aufgebraucht. Diese Jahrzehnte bieten also die Chance von therapeutischen Ansätzen, so dass in Zukunft die Arbeiten zur Früherkennung der Erkrankungen und zur Prävention des Nervenzelluntergangs zu effektiven (vermutlich aber wieder sehr teuren) Behandlungen führen könnten.
Ein weiterer Ansatz zur Therapie der Alterserkrankungen des Gehirns richtet sich auf die zellulären Reparaturmechanismen, deren Effizienz mit dem Alter abnimmt und die Ursache der steilen Zunahme aller großen Volkskrankheiten (wie Tumore, Infarkte, Diabetes und eben auch der Demenz) im Alter sind. Es ist denkbar, dass es gelingt, Substanzen zu finden, die Reparaturmechanismen stimulieren und so altersbedingte Erkrankungen generell aufhalten oder zumindest ins höhere Lebensalter verschieben.
Auch weiß man heute, dass das Gehirn sich ständig anpasst, indem es auch beim alten Menschen, wenn auch in geringem Umfang, Nervenverbindungen verändert und neu aufbaut sowie Nervenzellen, wenn auch in einem vermutlich nur geringen Ausmaß, aus vorhandenen Stammzellen neu bildet. Noch wichtiger scheint die Erkenntnis, dass Inaktivität zum Rückbau von Synapsen und Nervennetzen führt. Das Ideal für den alten Menschen ist also nicht der inaktive Ruhestand, sondern der gewonnene Freiraum zu neuer körperlicher und geistiger Tätigkeit. Dies gilt auch für die Neurologie: Die eingehende Kenntnis der Mechanismen synaptischer Plastizität verbessert die Strategien des Lernens und führt so zur Verminderung der Symptome, die nach Erkrankungen mit Zerstörung von Hirngewebe folgen. Das gilt nicht nur für Bewegung, sondern auch für höhere Hirnleistungen wie Konzentration, Gedächtnis, räumliche Orientierung und Sprache. Entsprechend sind in Deutschland seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mehr als fünfzig Neurorehabilitationskliniken und erste Lehrstühle für eine wissenschaftlich fundierte Neurorehabilitation entstanden.
Was also ist unter dem Strich bei all der Forschung für die großen Hirnkrankheiten gewonnen worden? Es ist viel, sogar sehr viel! Und das in erstaunlich kurzer Zeit. Der Mensch kann seit maximal 150 000 Jahren sprechen, seit maximal 3000 Jahren schreiben. Er forscht seit etwa 200 Jahren über das Gehirn und hat besonders in den vergangenen 100 Jahren in der Nervenheilkunde viel erreicht: Bei der Akutbehandlung von Schlaganfällen werden Blutgerinnsel, die Hirngefäße verstopfen, enzymatisch aufgelöst oder über feinste Katheter, die in das betroffene Hirngefäß gebracht werden, herausgezogen. Wenn das frühzeitig geschieht, sind die verbleibenden Schäden im Gehirn gering.
Bei der Vorbeugung des Schlaganfalls hat man durch Mittel, die erhöhten Blutdruck senken, die die Zusammenballung von Blutplättchen hemmen, die die Blutfette senken und die die Gerinnselbildung erschweren, das Schlaganfallrisiko drastisch um bis zu achtzig bis neunzig Prozent gesenkt. Beim Schlaganfall ist Prophylaxe damit wichtiger geworden als Therapie.
Etwa fünfzig Prozent der Epilepsie– Kranken werden nach Behandlung mit einem geeigneten Medikament anfallsfrei, weitere zehn bis fünfzehn Prozent durch Zugabe eines zweiten Wirkstoffes. Bei dem verbleibenden Drittel wird Anfallsfreiheit in sechzig bis siebzig Prozent der Fälle erreicht, wenn es gelingt, den Krampfherd zu lokalisieren und operativ zu entfernen oder zu isolieren. Bei einzelnen Patienten gelingt es bereits nach genetischer Typisierung, personenbezogen maßgeschneidert zu behandeln, etwa bei angeborener Anomalie eines Ionenkanals in den Nervenzellmembranen.
Bei der Behandlung der multiplen Sklerose sind zumindest für die schubförmigen Verläufe und für die Zeit bis zu einer möglichen Verschlechterung anhaltender Symptome ganz wesentliche Fortschritte erzielt worden. Da allerdings die Medikamente größtenteils noch nicht ausreichend lange auf dem Markt sind, gibt es nur für die Interferone den Nachweis einer positiven Langzeitwirkung. Die Behandlung der bösartigen Hirntumore zeigt dagegen nur geringe Fortschritte bei der Überlebensdauer, obschon die Entwicklung der Neurochirurgie Operationserfolge und Lebensqualität deutlich verbessert hat.
Bei den Neurodegenerationen sind mit Ausnahme der Parkinson-Erkrankung und, weniger deutlich, der Gedächtnisstörung bei der Alzheimer-Erkrankung die Erfolge eindeutig, aber unbefriedigend. Es ist davon auszugehen, dass erst die rasch voranschreitende Grundlagenforschung neue, wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeiten bieten wird.
Wie wird sich das Verhältnis von Neurologie und Hirnforschung entwickeln? Die Hirnforschung will Aufklärung an sich. Für sich genommen ist sie richtungslos. Die Neurologie aber will Therapie. Für sie ist Hirnforschung, neben anderen, eine unterstützende und notwendige Hilfswissenschaft. Grundlagenforschung und Klinik werden zusammenwachsen, denn die Klinik stellt die Fragen an die Forscher und verwendet deren Ergebnisse.
Die Neurologie als Heilkunst orientiert sich am Menschenbild, und das ist offenbar nicht stabil, sondern abhängig von der Kultur einer Zeit. Die Hirnforschung gehört zu dieser Kultur. Wohin also sind wir geraten mit der Hirnforschung, und in welche Richtung geht es weiter mit der Neurologie? Bevor wir vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, wurde der Mensch als Einheit begriffen, die ihrem Schicksal ausgeliefert war. Jetzt hat die Medizin, auch und vor allem die Hirnforschung, heilmächtiges Wissen erworben und Erwartungen geweckt, die naturgemäß nur teilweise befriedigt werden können. Der Fortschritt ist grandios, und doch sind wir noch längst nicht am Ziel. Fast alle Behandlungen, über die wir verfügen, wirken auf die Symptome, aber nicht auf die Ursachen. Erst wenn wir diese erkannt haben, kommen kausal wirksame Therapien in Aussicht.
Und wohin hat sich durch die Hirnforschung das Bild vom Menschen gewandelt? Offensichtlich meint man heute, dass das Ich, das Person-Sein, eine Funktion ausschließlich des Gehirns sei und erklärt entsprechend den Hirntod, auch wenn das Herz noch schlägt, zum Kriterium für die Entnahme von lebenden Organen zum Zweck einer Transplantation. Mehr noch, selbst vom Gehirn macht sich ein Verständnis breit, das einzelne Hirnleistungen Subsystemen zuordnet – und seien sie noch so komplex. Es gibt bereits Initiativen, elektronische Systeme zu entwickeln, die implantiert Hirnleistungen ersetzen oder doch zumindest elektronische Systeme von außen an das Gehirn ankoppeln sollen. Das Bild vom Menschen hat sich gewandelt und wird sich weiter wandeln müssen.
Reaktionsketten biochemischer und neurophysiologischer Natur scheinen den Forschern gesundes Verhalten und seine krankhaften Abweichungen umfassend zu erklären. Einige Hardliner unter den Hirnforschern leugnen dieser Auffassung entsprechend sogar die Willensfreiheit des Menschen. Der sieggewohnte Übermut der Forscher sieht keine grundsätzlichen Grenzen des Erforschbaren. Viele Wissenschaftler haben keinen Ehrfurchtsvorbehalt. Sie nehmen an, dass es jenseits des mit naturwissenschaftlichen Methoden Erforschbaren nichts gebe. Grundsätzlich muss aber doch erwogen werden, dass alle Leistungen des Menschen zwar an das Vorhandensein der neuronalen Materie gebunden sind, dass aber darüber hinaus durchaus emergente Phänomene denkbar sind, die mehr sind als die Summe der Eigenschaften ihrer Einzelkomponenten oder sich der naturwissenschaftlichen Analyse ganz entziehen.
In der philosophischen Einordnung dieser Entwicklungen sind wir deutlich zurückgeblieben. Es bedarf der geisteswissenschaftlichen Anstrengung, um das Menschenbild und die Ziele unseres Handelns zu klären und auch um den Absolutheitsanspruch der Naturwissenschaften zu zügeln. Die Gemeinschaft der Forschenden beginnt dies zu sehen. In der Neurologie und Hirnforschung hat diese Erkenntnis bereits zur Gründung von Forschergruppen geführt, die sich die Neurophilosophie auf ihre Fahne schreiben.
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Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Dopamin
Dopamin/-/dopamine
Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.
Demenz
Demenz/Dementia/dementia
Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.
Dieser Artikel erschien erstmals am 20.08.2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Teil der Vortragsreihe „Hirnforschung, was kannst du? — Potenziale und Grenzen“ von Gemeinnütziger Hertie-Stiftung und FAZ.
Hier der Mitschnitt der FAZ zum Vortrag Können wir das Gehirn kurieren?