Das Bewusstsein neu denken

Digitale Illustration von Ana Perez Hernández (im Auftrag von Lucia Melloni)

Wenn die Wissenschaft sich selbst auf die Probe stellt

Quelle: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik

Veröffentlicht: 30.04.2025

Was ist Bewusstsein? Seit Jahrhunderten versuchen Wissenschaftler:innen und Philosophen:innen zu verstehen, wie das Gehirn unsere innere Welt erschafft – wie neuronale Aktivität beispielsweise in Kaffeegeschmack oder Schmerz umgewandelt wird. Nun hat ein internationales, theorieübergreifendes Forschungskonsortium unter Leitung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik (MPIEA) in Frankfurt am Main zwei der derzeit prominentesten Bewusstseinstheorien auf den Prüfstand gestellt. Die im Fachmagazin  Nature veröffentlichten Ergebnisse stellen Kernannahmen beider Modelle in Frage und bieten gleichzeitig einen neuen Ansatz zur Untersuchung komplexer wissenschaftlicher Fragestellungen.

Durchgeführt wurde die Studie vom Cogitate-Konsortium (Collaboration On GNWT and IIT: Testing Alternative Theories of Experience), das sich zum Ziel gesetzt hat, die Global Neuronal Workspace Theory (GNWT) und die Integrated Information Theory (IIT) umfassend miteinander zu vergleichen. Beide Modelle versuchen zu erklären, wie aus neuronaler Aktivität bewusste Erfahrungen entstehen, kommen aber zu völlig unterschiedlichen Antworten: Die GNWT geht davon aus, dass Bewusstsein durch großflächige Übertragungen von Informationen im Gehirn entsteht. Der Schwerpunkt liegt dieser Theorie zufolge in den präfrontalen und parietalen Regionen. Die IIT hingegen verortet das Bewusstsein im posterioren Kortex, wo Informationen zu zusammenhängenden Erfahrungen verbunden werden.

Anstatt isoliert zu arbeiten, schlossen sich führende Theoretiker:innen mit einem internationalen Forschungsteam zusammen. Sie konzipierten eine Studie, die einen objektiven, widerlegbaren Test ihrer Vorhersagen liefern sollte. Diese kontroverse Zusammenarbeit – ein Ansatz, der erstmals vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman vertreten wurde – ist eine radikale Abkehr vom Status quo in den Neurowissenschaften, in denen Bestätigungsfehler und methodologisches Silodenken lange Zeit den Fortschritt behindert haben.

Alle Hypothesen, Analysen und Interpretationen wurden vorab registriert. Unabhängige Forschungsteams führten die Studie mit insgesamt 256 Teilnehmer:innen in sieben Laboren weltweit durch. Dabei nutzten sie drei sich ergänzende bildgebende Verfahren: funktionelle Kernspintomographie (fMRI), Magnetenzephalographie (MEG) und intrakranielles EEG (iEEG). Alle beteiligten Wissenschaftler:innen hatten sich im Vorfeld darauf geeinigt, die Ergebnisse unabhängig von deren Ausgang zu akzeptieren.

„Die Stärke dieses Ansatzes liegt darin, dass wir unsere Theorien gemeinsam testen“, sagt Lucia Melloni, Co-Seniorautorin vom MPIEA. „Dabei geht es nicht darum, einen Sieger zu küren, sondern darum, die Messlatte für die Überprüfung wissenschaftlicher Ideen höher zu legen.“

Die Ergebnisse stellen beide Theorien in Frage. Die Kernannahme der IIT, wonach die bewusste Wahrnehmung von einer anhaltenden Synchronisation in den hinteren Hirnregionen abhängt, wurde durch die Daten nicht bestätigt. Im Falle der GNWT traten zwar einige bewusste Informationen im präfrontalen Kortex auf, aber wesentliche Merkmale fehlten. Auch das vorhergesagte „Zündmuster“ zu Beginn der bewussten Erfahrung konnte nicht nachgewiesen werden.

„Die Ergebnisse erinnern uns eindringlich daran, dass selbst unsere etabliertesten Überzeugungen einer strengen Überprüfung bedürfen. Wenn wir das Bewusstsein wirklich verstehen wollen, dürfen wir uns nur von den Daten leiten lassen“, führt Melloni weiter aus.

Aufbauend auf der bisherigen Arbeit ist das Cogitate-Team bereits dabei, ein zweites großangelegtes Experiment zur weiteren Untersuchung der GNWT und IIT fertig zu stellen. Als weiteres Bekenntnis zur Transparenz stellt das Team seinen Datensatz Forscher:innen weltweit kostenlos zur Verfügung.

„Es gibt mehr als zwanzig Theorien über das Bewusstsein. Wir haben zwei davon getestet“, schließt Alex Lepauvre, Co-Autor vom MPIEA. „Jetzt laden wir andere dazu ein, diesen umfangreichen Datensatz zu nutzen und dazu beizutragen, das Forschungsgebiet weiter voranzubringen.“

Der Artikel wurde von 41 Forscher:innen, darunter neun Co-Erstautor:innen, gemeinsam verfasst. Eine vollständige Liste der Autor:innen und Beiträge findet sich auf der Website des Konsortiums.

 

Folgende Autor:innen waren die Hauptforscher:innen der Studie:

  1. Liad Mudrik, Co-Seniorautor, Tel Aviv University, Tel Aviv, Israel
  2. Michael Pitts, Co-Seniorautor, Reed College, Portland, Oregon, USA
  3. Ole Jensen, University of Oxford, Oxford, England
  4. Floris de Lange, Donders Centre for Cognitive Neuroimaging, Nijmegen, Niederlande
  5. Gabriel Kreiman, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, USA
  6. Huan Luo, Peking University, Beijing, China
  7. Hal Blumenfeld, Yale University, New Haven, Connecticut, USA
  8. Simon Henin, NYU Langone Health, New York City, New York, USA
  9. Giulio Tononi, University of Wisconsin–Madison, Madison, Wisconsin, USA
  10. Stanislas Dehaene – CEA NeuroSpin, Paris/Saclay, Frankreich
  11. Christof Koch, Allen Institute, Seattle, Washington, USA

 

EEG

Elektroencephalogramm/-/electroencephalography

Bei dem Elektroencephalogramm, kurz EEG handelt es sich um eine Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns (Hirnströme). Die Hirnströme werden an der Kopfoberfläche oder mittels implantierter Elektroden im Gehirn selbst gemessen. Die Zeitauflösung liegt im Millisekundenbereich, die räumliche Auflösung ist hingegen sehr schlecht. Entdecker der elektrischen Hirnwellen bzw. des EEG ist der Neurologe Hans Berger (1873−1941) aus Jena.

Wahrnehmung

Wahrnehmung/Perceptio/perception

Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Originalpublikation

Cogitate Consortium, Ferrante, O., Gorska-Klimowska, U., Henin, S., Hirschhorn, R., Khalaf, A., Lepauvre, A., Liu, L., Richter, D., Vidal, Y., Bonacchi, N., Brown, T., Sripad, P., Armendariz, M., Bendtz, K., Ghafari, T., Hetenyi, D., Jeschke, J., Kozma, C., Mazumder, D. R., Montenegro, S., Seedat, A., Sharafeldin, A., Yang, S., Baillet, S., Chalmers, D. J., Cichy, R. M., Fallon, F., Panagiotaropoulos, T. I., Blumenfeld, H., de Lange, F. P., Devore, S., Jensen, O., Kreiman, G., Luo, H., Boly, M., Dehaene, S., Koch, C., Tononi, G., Pitts, M., Mudrik, L., & Melloni, L. (2025). Adversarial Testing of Global Neuronal Workspace and Integrated Information Theories of Consciousness. Nature.  https://doi.org/10.1038/s41586-025-08888-1

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