Frage an das Gehirn

Wieso hat der Mensch zwei Gehirnhälften?

Fragesteller/in: Michele aus Baden

Veröffentlicht: 18.02.2018

Warum ist das Gehirn so kompliziert, warum braucht es zwei Gehirnhälften? Hätte ein "Kompletthirn" nicht gereicht?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Antwort von Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Schmeißer, Leiter des Bereichs Neuroanatomie und Dr. med. Sven Schumann, PostDoc im Bereich Neuroanatomie am Institut für Anatomie der Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg:  Diese Frage hat mehrere Antworten. Zum einen ist der ganze menschliche Körper bilateralsymmetrisch aufgebaut, er lässt sich entlang seiner Längsachse in fast spiegelbildliche Hälften einteilen. Während diese Symmetrie in einigen Organsystemen deutlich ist (z.B. Skelett) zeigen andere Organsysteme weniger davon (z.B. Verdauungssystem). Im Laufe der Embryonalentwicklung haben sich Prozesse vollzogen, die die Symmetrie verändert haben. Das zentrale Nervensystem (Gehirn & Rückenmark) weist dagegen bei oberflächlicher Betrachtung eine deutliche Spiegelung auf. Am auffälligsten zeigt sich das bei der Betrachtung von Groß- und Kleinhirn, die durch eine tiefe Längsfurche in zwei Hälften geteilt sind. Auch tiefer gelegene Hirnregionen sind genauer betrachtet symmetrisch aufgebaut.

Was sind die Ursachen für diese Symmetrie? Evolutionär gesehen hängt sie eng mit der Ausbildung einer Kopfregion mit Gehirn zusammen. Mit Entstehung einer mobilen Lebensweise bei 99% aller ‚höheren‘ Tiere hat sich eine Organisation des Körpers entlang einer Längsachse  herausgebildet. Diese Achse bestimmt das „Vorne“ und „Hinten“ eines Tieres, also die Hauptfortbewegungsrichtung. Dass der Kopf am vorderen Ende des Tieres sitzt und das Nervengewebe als oberes Steuersystem in dieser Kopfregion ein Gehirn bildet, verwundert nicht. Mit der Herausbildung der Längsachse war auch die Grundlage geschaffen, ein „Rechts“ und „Links“ zu definieren, die Grundlage der Bilateralsymmetrie.

Die Evolution unseres Gehirns ist somit untrennbar mit den Körperachsen verwoben. Dabei versorgt die Hirnhälfte einer Seite vornehmlich die Muskulatur der gegenseitigen Körperhälfte und nimmt Sinnesreize von dort auf. Es gibt jedoch Krankheitsbilder (Horizontal gaze palsy with progressive scoliosis, HGPPS), die auf einem Fehlen dieser Kreuzungen gründen: Die Bahnen, die die Endhirnhemisphären mit der Körperperipherie verbinden, kreuzen nicht auf die Gegenseite, sondern versorgen die gleichseitige Körperhälfte. Interessanterweise weisen betroffene Patienten trotzdem nur geringe Störungen der Motorik oder Sensibilität auf.

Neben der evolutionären Sicht lässt sich die Entstehung zweier Gehirnhälften auch ontogenetisch beleuchten, also mit Blick auf die Entwicklung des Individuums: im Mutterleib entwickelt sich unser Gehirn aus Erweiterungen des vorderen Neuralrohrs, den Hirnbläschen. Schauen wir uns beide Endhirnhälften im Detail an, fällt auf, dass diese sich zwar ähneln, aber nicht identisch sind: Bereits bei äußerer Betrachtung erkennt man, dass beispielsweise Teile des Temporallappens deutliche Seitenunterschiede aufweisen können. Auch können sich funktionelle Zentren bevorzugt in einer Hemisphäre ausbilden (Lateralisation). So befindet sich z.B. das motorische Sprachzentrum (Broca-Areal) meist in der linken Hälfte. Beide Hemisphären arbeiten aber generell eng zusammen. Von einer Spezialisierung der Hemisphären besonders für höhere geistige Funktionen (Hemisphärenmodell) kann also nur eingeschränkt gesprochen werden.

Spannend ist die besonders in jungen Jahren enorme Plastizität/Veränderlichkeit funktioneller Zentren. Während im reifen Gehirn der Verlust selbst kleinster Hirnareale zu einem schweren medizinischen Problem führen kann, kann der Verlust einer gesamten Hemisphäre während der Entwicklung relativ gut überlebt werden. In diesen Fällen zeigt sich auch, dass selbst Zentren, die als streng seitenbezogen gelten (z.B. die primäre Sehrinde für das gegenüberliegende Gesichtsfeld) so umstrukturiert werden können, dass sie Informationen aus anderen Regionen verarbeiten.

Der Aufbau unseres Gehirns in zwei Hälften ist also das Ergebnis unserer generellen bilateralen Bauweise. Die Embryonalentwicklung des Gehirns erklärt, dass die so deutliche Zweiteilung des Gehirns Folge der enormen Erweiterung der paarigen Endhirnbläschen beim Menschen ist. Die funktionelle Anatomie zeigt, dass unser Gehirn Funktionen zwar bevorzugt einer Hemisphäre zuteilt. Diese Zuteilung darf aber aufgrund der Plastizität unseres Gehirns besonders während der Entwicklung nicht als endgültig verstanden werden.

Aufgezeichnet von Andreas Grasskamp

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