Frage an das Gehirn

Was ist anders im Gehirn von Menschen, die stottern?

Fragesteller/in: Ariane Feurer aus Tübingen

Veröffentlicht: 17.10.2023

Gibt es eine nachgewiesene Funktionsstörung der Sprachzentren bei Stotternden? Lassen sich daraus Therapie Empfehlungen ableiten?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Dr. Nicole Neef, Universitätsmedizin Göttingen, Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie: Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich etwas ausholen: Zum menschlichen Sprechapparat gehören das Atmungssystem und der Vokaltrakt einschließlich Kehlkopf, Nasen-Rachenraum, Gaumensegel, Zunge, Lippen und Kiefer. Beim Sprechen werden all diese Organe über einen ausgefeilten Muskelapparat kontrolliert. Die Atem- und Sprechmuskulatur wird von unserem Gehirn durch das Zusammenspiel komplexer neuronaler Netze gesteuert. Diese neuronalen Netze wiederum stehen beim Sprechen im permanenten Austausch mit sensomotorischen, kognitiven und limbischen Systemen wie dem Hör-, Sprach- und Gefühlssystem. Während das Hörsystem dafür sorgt abzugleichen, dass alles Gesagte so klingt wie geplant, hilft uns das Sprachsystem, unsere Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen und das Gefühlssystem gibt unserer Stimme und Sprechweise einen neutralen, glücklichen oder traurigen Klang, lässt uns schneller oder langsamer sprechen.

Sprach- und Sprecherwerb sind eng miteinander verwoben. Die meisten Menschen erwerben die Fähigkeit zu sprechen ungehindert in einer Phase, in der das Gehirn sehr plastisch ist und viele Meilensteine der Entwicklung meistert. Stottern tritt am häufigsten im Alter zwischen drei und fünf Jahren auf. In diesem Zeitfenster sind weder Sprach- noch Sprechentwicklung abgeschlossen.

Neueste bildgebende Studien mit stotternden Kindern weisen darauf hin, dass zu diesem Entwicklungszeitpunkt morphologische Unterschiede in Hirnregionen nachzuweisen sind, die wesentlich am Lernen und an der Kontrolle des Sprechens beteiligt sind. So sind motorische und prämotorische Rindenbänder, Regionen, die dem Vokaltrakt vorgeben wie er sich bewegen soll, bei Kindern mit chronischem Stottern dünner als bei gleichaltrigen Kindern, die nicht Stottern. Es wurden auch Unterschiede in der Struktur der weißen Gehirnsubstanz, dem Fasersystem des Gehirns, beobachtet. Diese Unterschiede wirken sich etwa auf das Zusammenspiel von auditiven, somatosensorischen und motorischen Signalen, die Initiierung von Sprechbewegung, die Überwachung von Gesagtem und die interhemisphärischen Koordination. Der Schweregrad des Stotterns ist direkt abhängig von diesen strukturellen Unterschieden, was auf ihre Bedeutung für den Redefluss hindeutet.

Auch bei Erwachsenen mit chronischem Stottern ließen sich Veränderungen von Hirnaktivität und -verbindungen nachweisen. Betroffen sind im Besonderen Hirnregionen, die Sprech- und Sprachfunktion unterstützen. Neben motorischen und prämotorischen Rindengebieten betrifft das Areale wie den Gyrus frontalis inferior auch bekannt als Broca-Areal, das supplementär-motorische Areal, parietale und temporale Regionen, also Regionen die die Planung, Initiierung und sensomotorische Kontrolle beim Sprechen gewährleisten. Zudem sind die Basalganglienschleifen und Schaltkreise zwischen Großhirnrinde und Kleinhirn betroffen.

Das Problem solcher Befunde im erwachsenen Gehirn liegt darin begründet, dass sich zu diesem Zeitpunkt schwer beurteilen lässt, ob es sich um Ursache oder Folge handelt: ob das Stottern durch diese hirnanatomischen und -funktionellen Veränderungen verursacht wird, oder ob das Leben mit dem Stottern und dessen Konsequenzen auf Verhalten und Gefühlswelt das Gehirn entsprechend verändert haben.

Obwohl viele Studien zeigen, dass sich Personen mit chronischem Stottern in Hirnstruktur und -funktion von Personen, die nicht stottern, unterscheiden, wurde bisher kein neuronaler Funktionsmechanismus beschrieben, der auf mechanistische Weise erklärt, warum Stottern auftritt. Es gibt zwar verschiedene Hypothesen, wie beispielsweise die Annahme, dass die Automatisierung von Sprechbewegungen gestört ist, die Initiierung von Sprechbewegungen beeinträchtigt ist, der Signalaustausch zwischen sensomotorischen Hirnregionen oder zwischen den beiden Gehirnhälften nicht reibungsfrei und damit zeitlich nicht richtig abgestimmt funktioniert, oder dass die Signalverarbeitung von wichtigen Neurotransmittern wie beispielsweise Dopamin in Schieflage liegt. Es gibt auch Hinweise darauf, dass genetische Faktoren eine Rolle bei der Veranlagung für Stottern spielen können. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die genauen neurologischen Grundlagen des Stotterns haben jedoch noch keine klaren und eindeutigen Therapieempfehlungen ergeben.

Nichtsdestotrotz wurden jüngst Behandlungsmethoden auf der Basis von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum Stottern motiviert. Zwei kontrollierte Studien, die beide den Standards von klinischen Studien entsprechen, nutzten hierfür die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS). Dabei handelt es sich um eine nicht-invasive Technik, bei der schwache elektrische Ströme zur Beeinflussung der Gehirnaktivität eingesetzt werden. Diese Hirnstimulationsmethode wurde in den jeweiligen Studien mit Sprechtechniken verbunden, die das Stottern unterdrücken. Die Kombination beider Interventionen, erleichterte das flüssige Sprechen bei stotternden Erwachsenen nachhaltig.

Vergleichbare Studien ohne Hirnstimulation gibt es bisher leider nur wenige. Ein bisher getesteter konventioneller Therapieansatz für Erwachsene die Stottern und das Ziel verfolgen, flüssiger zu sprechen, ist beispielsweise das sogenannte fluency-shaping (Sprechumstrukturierung). Dieses Trainingsprogramm ist sehr anspruchsvoll und erfordert eine ungemein hohe Disziplin. Dabei werden über einen langen Zeitraum neue Sprechmuster trainiert, häufig in Kombination mit einem computerbasiertem Biofeedback System.

Während jedoch die Stotterhäufigkeit durch die tDCS-Interventionen im Durchschnitt um 16 bis 25 Prozent reduziert wurde, verringerte sich das Stottern bei konventionellen fluency-shaping-Ansätzen im Durchschnitt um 50 bis 57 Prozent, also deutlich stärker. Diese Ergebnisse legen nahe, dass es sich lohnen könnte, elegante Kombinationen aus konventionellen Interventionen und tDCS zu testen.

Aktuell konzentriert sich die Therapie des Stotterns auf konventionelle sprachtherapeutische Ansätze, die darauf abzielen, die Sprechflüssigkeit zu verbessern und das Selbstvertrauen beim Sprechen zu stärken. Dabei kann die Wirksamkeit der Therapie von Person zu Person variieren und die Auswahl der geeigneten Therapie hängt von der individuellen Situation und den Bedürfnissen des stotternden Menschen ab. Ein multidisziplinärer Ansatz, der die Zusammenarbeit zwischen Logopäd*innen, Psycholog*innen und Ärzt*innen einschließt, kann in einigen Fällen empfehlenswert sein. Trotz des engen Zusammenhangs zwischen psychischer Gesundheit und Stottern gibt es bislang nur wenige Untersuchungen zur Wirksamkeit einer Kombination von psychologischer und Stottertherapie. Hier werden dringend weitere Behandlungsstudien in diesem Bereich benötigt.

Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert

 

inferior

inferior/inferior/inferior

Eine anatomische Lagebezeichnung — inferior bedeutet weiter unten gelegen, der untere Teil.

Cerebellum

Kleinhirn/Cerebellum/cerebellum

Das Cerebellum (Kleinhirn) ist ein wichtiger Teil des Gehirns, an der Hinterseite des Hirnstamms und unterhalb des Okzipitallappens gelegen. Es besteht aus zwei Kleinhirnhemisphären, die vom Kleinhirncortex (Kleinhirnrinde) bedeckt werden und spielt unter anderem eine wichtige Rolle bei automatisierten motorischen Prozessen.

Dopamin

Dopamin/-/dopamine

Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.

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