Frage an das Gehirn

Was ist ein transgenerationales Trauma?

Fragesteller/in: Andrea D.

Veröffentlicht: 12.05.2024

Wie übertragen sich Traumata auf nachfolgende Generationen? Was passiert dabei im Gehirn?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Dr. Angela Moré, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hannover und Gruppen(lehr)analytikerin: Es handelt sich bei einem transgenerationalen Trauma um ein Trauma, das von einer vorhergehenden Generation tatsächlich erlebt wurde, nicht aber von den nächsten Generationen, die es emotional übernommen haben. Trotzdem reagieren die nachfolgenden Generationen auf bestimmte innere Bilder und Gefühle, so als hätten sie das Trauma selbst erlebt.

In der Regel sind die späteren Generationen Sie nicht selbst traumatisiert. Sie haben also selbst nicht die für die Entstehung eines Traumas typische Hilflosigkeit oder Ohnmacht erlebt. Ausnahme ist eine Form des transgenerationalen Traumas, bei der die Generation, die das Trauma erlitten hat, dieses reinszeniert, indem sie es an der nächsten Generation ausagiert. Als Beispiel kann man dafür den Vater nennen, der von seinem eigenen Vater misshandelt wurde und dann wiederum seine Kinder misshandelt. Dadurch kommt das Trauma transgenerational in unmittelbarer Form bei der nächsten Generation an. Das heißt, dass auch diese Generation selbst traumatisiert wird.

Die andere Form eines transgenerationalen Traumas ist eher eine indirekte, von der es verschiedene Varianten gibt. Dafür verweise ich gern auf den von Freud geprägten Begriff der Gefühlserbschaft. Dieser Ausdruck macht sehr gut deutlich, worum es eigentlich geht: nicht um eine eigene Traumatisierung, sondern um eine Identifikation mit einem traumatisierten Elternteil.

Dabei entwickelt das Kind innere Bilder und Vorstellungen von dem, was das Elternteil erlitten hat, durch dessen hauptsächlich nonverbale Signale, etwa mimische und gestische Ausdrücke, Stimmungsschwankungen, vielleicht auch durch Panikattacken, extreme Traurigkeit oder Depressivität. Das Kind fragt sich dann, was mit Mama oder Papa los ist und wie es Mama oder Papa helfen kann. Ein Kind kann sehr schnell nach der Geburt bereits die Grundaffekte erkennen, die es in sich wahrnimmt und auch schon beeinflussen kann. Das Kind sieht also, dass Mama traurig ist oder Papa eine Panikattacke hat und wird dadurch zwar nicht traumatisiert, spürt aber eine große Unruhe. Und es erlebt, dass die Person momentan für es selbst nicht erreichbar ist.

Das Kind bemüht sich dann etwas zu tun, um diesen Zustand zu beenden. Das heißt, das Kind wird möglicherweise ganz aktiv. Es versucht die Gefühle in sich aufzunehmen und wird etwas tun, um das Elternteil zu entlasten. Je älter das Kind wird, umso mehr wird es aktiv versuchen, diese Gefühle zu übernehmen, zu verstehen, aber auch abzuwehren. Die Selbstschutzmechanismen setzen in einer solchen Situation also nicht vollständig aus. Es kommt tatsächlich in vielen Fällen zu einer Parentifizierung. Das bedeutet, die Kinder sorgen sich um die Eltern und sorgen auch in gewisser Weise für sie.

Es kommt noch hinzu, dass Kinder im Sinne einer ursprünglichen, primitiven Kausalität die Schuld auf sich nehmen, da sie dann darauf reagieren können und sich nicht völlig hilflos fühlen. Sie sind dann beispielsweise davon überzeugt, dass ihr schlechtes Verhalten die Traurigkeit des Elternteils ausgelöst hat. Dadurch versucht das Kind sich den Bedürfnissen des Erwachsenen anzupassen und tröstend und hilfreich zu sein. Wird das Kind älter, bildet es bestimmte Vorstellungen darüber, was der Grund für die Traurigkeit gewesen sein könnte.

Diese Vorstellungen können realistisch oder unrealistisch sein. Bei vielen Nachkommen, zum Beispiel von Holocaustüberlebenden, sind die Signale, die die Eltern von sich geben, so fein, dass das Kind relativ präzise Bilder entwickeln kann. Es lässt sich an vielen Fallgeschichten beobachten, dass die Kinder etwas reinszenieren und sich in die Rolle der Eltern begeben, um diese zu entlasten und auch besser zu verstehen, was tatsächlich passiert ist.

Oft haben die Eltern dabei nicht von ihrem Trauma gesprochen. Wenn sie doch davon sprechen, erzählen sie nicht zusammenhängend, da das bei Traumatisierung in der Regel nicht geht – es sei denn, das Trauma konnte verarbeitet und integriert werden. Stattdessen erleben die Eltern sogenannte Flashbacks, sie finden sich plötzlich in der traumatischen Situation wieder, fangen auf einmal an panisch zu reagieren oder Angstzustände oder Fluchtimpulse zu entwickeln.

Das Kind beobachtet dieses Verhalten und versucht zu beruhigen und Dinge anzubieten, die die Angst mindern. Gleichzeitig nimmt das Kind aber auch einen Teil dieser Angst auf. Dr. Kurt Grünberg vom Sigmund-Freud-Institut spricht davon, dass die Eltern das Trauma szenisch erinnern. Sie erinnern es, als wäre es gerade wieder Realität und sie setzen es in eine Handlung wie Flucht oder Aggression um. Auf diese Weise wird das Trauma für das Kind in Szene gesetzt.

Ab etwa sechs Jahren ist ein Kind im Modus des szenischen Verstehens. Es kann also schon ein Stück weit verstehen, was das Verhalten der Eltern bedeutet. In seinem Buch Totem und Tabu, in dem er auch den Begriff der Gefühlserbschaft einführt, formuliert Freud, dass jede Generation eigentlich die guten Dinge vererben will, worum sich die nächste Generation als Lernprozess auch bemühen muss. Anschließend kommt er jedoch darauf zu sprechen, dass es auch Dinge gibt, die die ältere Generation vor der jüngeren verbergen will und darum zu verschlüsseln versucht. Das funktioniere aber nicht, da die jüngere Generation über denselben psychischen Apparat verfüge und die Information auch wieder entschlüsseln könne. Es handelt sich hierbei um eine non-verbale und unbewusste Kommunikation.

Neurophysiologische Erkenntnisse zeigen, dass Traumata das Gehirn der Betroffenen verändern. Durch das Trauma ist die Elterngeneration einem hochgradigen Stress ausgesetzt, was aus epigenetischer Sicht mit einem Abbau der DNA-Methylierung verbunden ist. Bei der Folgegeneration kommt es nach Studien von Nathan Kellermann zu einer allostatischen Anpassungsreaktion, d.h. einige der Nachkommen werden resilienter gegen Stress, andere dagegen werden verletzlicher. In Tierversuchen zeigte sich eine Veränderung der Methylierung bei Nachkommen von gestressten Mäusen, obwohl diese erst nach dem traumatischen Ereignis des Muttertiers gezeugt worden waren.

Um das Trauma nachträglich psychisch zu integrieren, versucht die Psyche durch Wiederholungsmuster Zugang zu dem zu finden, was eigentlich geschehen ist und es zu verarbeiten. Man erkennt die gelungene Verarbeitung eines Traumas daran, dass die betroffene Person das Ereignis als abgeschlossenes Geschehen in der Vergangenheit schildern kann. Das bedeutet nicht, dass nicht noch immer starke Gefühle beim Erinnern auftreten können, aber sie überwältigen die Person nicht mehr. Ist das Trauma jedoch nicht verarbeitet, zeigt es sich für die Nachkommen in posttraumatischen Belastungsstörungen und emotionalen beziehungsweise psychischen Störungen des betroffenen Elternteils. Und diese können sich die in der oben beschriebenen Weise auf die Nachkommen auswirken.

Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert

Emotionen

Emotionen/-/emotions

Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.

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