Frage an das Gehirn

Warum schwingt nach der Hängebrücke der Boden?

Fragesteller/in: Sigrid Köppen

Veröffentlicht: 29.10.2017

Angenommen, Sie gehen über eine Hängebrücke, die während des Laufens auf- und abwärts schwingt. Am anderen Ufer angelangt, haben Sie wieder festen Boden unter den Füßen, und dennoch... für ein paar Sekunden haben Sie das erlebte Gefühl zu schwingen weiterhin. Woran liegt das?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Antwort von Prof. Dr.-Ing. Stefan Glasauer, Zentrum für Sensomotorik, Ludwig-Maximilians-Universität München:  Es gibt mehrere Möglichkeiten woran das liegen könnte. Persönlich habe ich diese Erfahrung noch nicht gemacht, obwohl ich selber schon über Hängebrücken gegangen bin. Ich habe aber ähnliches nach längeren Bootsfahrten erlebt. Nachdem man wieder an Land kommt, schwankt das ganze Ufer weiter. Man hat den Eindruck man steht immer noch auf dem Schiff. Was diese so genannten „sea legs“ verursacht, ist nicht völlig klar. Es scheint eine Art Adaptation an diese Bewegung zu geben – man gewöhnt sich sozusagen dran. Und wenn sie wieder fehlt, hat man einen Nacheffekt.

Das kennt man zum Beispiel von optischen Täuschungen, wie der so genannten „waterfall illusion“: Starrt man länger auf einen Wasserfall und betrachtet danach ein statisches Bild eines Wasserfalls, hat man den Eindruck, dass sich das Wasser in die Gegenrichtung bewegt, also nach oben fließt. Man hat sich dann rein visuell an diese Abwärtsbewegung gewöhnt und plötzlich den entgegengesetzten Effekt, wenn diese fehlt. Diese Adaptation findet teilweise schon in der Netzhaut statt, aber auch in späteren dem Sehen zugeordneten Arealen im Gehirn. Dabei sinkt die Aktivität von bewegungssensitiven Zellen, die zum Beispiel für Abwärtsbewegungen kodieren. Wenn bei herunter gefahrener Aktivität nun plötzlich kein neuer Input mehr kommt, weil sich nichts mehr bewegt, dann kippt es sozusagen ins Gegenteil um: Die nachgeschalteten Areale halten das dann für eine Bewegung in die andere Richtung. Dann bekomme ich diesen Nacheffekt der Adaptation. Das ist eine sehr gute Erklärung für gleichförmige Bewegungen, die wohl auch bei anderen Arten von Adaptationsvorgängen zutrifft.

Die Frage ist jetzt, wie das bei Oszillation – also Schwankungen – funktioniert, wie dem hin und her schwankenden Schiff oder der sich auf und ab bewegenden Hängebrücke. Und das ist meiner Meinung nach noch nicht völlig klar. Da scheint dieser Nacheffekt eher von vestibulären, also vom Gleichgewichtsorgan hervorgerufenen Adaptationen zu stammen. Vermutlich finden diese im Kleinhirn statt. Dieses ist ja für motorisches oder auch sensorisches Lernen zuständig und damit auch für das Gleichgewichtsorgan sehr wichtig.

Zu diesen vestibulären Lernvorgängen zählt beispielsweise die Adaptation des vestibulookulären Reflexes, kurz VOR. Der VOR funktioniert praktisch wie die Bewegungskompensation in modernen Handys, die dafür sorgt, dass das Bild nicht so wackelt. Er dient dazu, mittels gegengerichteter Augenbewegungen den Blick stabil zu halten und Bewegungen, wie das leichte Kopfwackeln beim Gehen, zu kompensieren. Der Reflex muss aber auf die äußeren Gegebenheiten anpassbar sein und sich beispielsweise auf die momentane optische Situation einstellen, also hab ich eine Brille auf oder nicht.

Wenn wir nach einer Hängebrücke oder einer längeren Schiffsreise das Gefühl haben an Land zu schwanken, liegt es mit daran, dass es eine Weile dauert, bis sich dieses System wieder an die neue Situation anpasst und wieder „normal“ funktioniert. Aber das Gefühl hängt nicht nur vom VOR ab. Wir haben das Gefühl ja auch, wenn wir die Augen zumachen. Das ist tatsächlich unser persönliches, subjektives Gefühl von Bewegung, dass sich da verändert hat.

Während die „sea legs“ höchstens ein paar Stunden andauern, hat man diesen schwankenden Eindruck beim „mal de debarquement“ Syndrom wochenlang. Da handelt es sich wirklich um eine Erkrankung, bei der es extrem lange dauert, diese Adaptation rückgängig zu machen. Diese Menschen lassen sich dann von Neurologen behandeln. Mittlerweile gibt es Therapieversuche in den USA, bei denen die Patienten einem optokinetischen Input ausgesetzt werden, also ein sich bewegendes Muster sehen, und dabei aktiv Kopfbewegungen machen. Das scheint diese Adaptation tatsächlich wieder rückgängig zu machen, sodass ein Großteil dieser Patienten nach einiger Zeit nicht mehr das Gefühl hatte, sie würden ständig hin und her schwanken.

Aufgezeichnet von Nicole Paschek

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