Frage an das Gehirn
Neue Nerven im Erwachsenengehirn – was weiß man darüber?
Veröffentlicht: 23.07.2013
Was weiß man über die adulte Neurogenese? Früher hieß es, bei Erwachsenen bildeten sich gar keine neue Nerven, dann war von Neurogenese im Hippocampus die Rede, bei Tieren sogar vom Cortex. Wie steht es beim Menschen?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Professor Dr. Gerd Kempermann, Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden und Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Dresden:
Die meisten Säugetiere haben zwei Hirnbereiche, in denen lebenslang neue Nervenzellen entstehen: Hippocampus und Riechkolben. Doch es gibt Ausnahmen – zu denen auch wir Menschen zählen. Bei uns findet Neurogenese nur im Hippocampus statt. Im Riechkolben dagegen stagniert die Neubildung der Zellen entweder in der frühen Kindheit oder sie läuft auf einem extrem geringen Niveau weiter, das für die Funktion keine Bedeutung hat. Bei vielen Fledermausarten ist das genau umgekehrt: Neue Neurone bilden sich bei ihnen nur im Riechkolben, nicht im Hippocampus. Wo genau sich Stammzellen zu Nervenzellen ausdifferenzieren, variiert also von Spezies zu Spezies. Der Zebrafisch zum Beispiel hat sogar um die 16 neurogene Zonen.
Natürlich ist nichts so schwer zu beweisen wie die Abwesenheit von etwas. Letztlich kann also niemand ausschließen, dass sich nicht auch mal bei Säugetieren irgendwo eine neue Nervenzelle außerhalb des Hippocampus und des Riechkolbens bildet. Dazu gibt es eine Flut an widersprüchlichen Publikationen und Behauptungen. Doch gerade den Cortex haben bereits Legionen an Forschern abgegrast. Daher kann man inzwischen mit ziemlich großer Sicherheit sagen, dass eine für die Funktion relevante Neurogenese hier nicht stattfindet. Anders steht es zum Beispiel um den Hypothalamus, zumindest bei Ratten und Mäusen: Unter Umständen könnte es sich lohnen, hier weiter zu suchen.
Wo die neurogenen Bereiche einer Spezies liegen, ist evolutionär bedingt. Es macht also gewissermaßen Sinn, dass sich beim Menschen keine neuen Nervenzellen im Riechkolben bilden. Schließlich spielen Gerüche in unserem täglichen Leben kaum eine Rolle. Das ist bei den meisten Säugern anders: Mäuse und Ratten zum Beispiel „denken“ praktisch über ihren Geruchsinn. Bei uns hingegen ist der Hippocampus das „Tor zum Gedächtnis“, wo Informationen vom Kurzzeit– ins Langzeitgedächtnis gelangen. Obwohl Neurogenese nicht zum Lernen an sich notwendig ist, verändert sie wahrscheinlich die Qualität des Lernens: Derzeit deutet Vieles darauf hin, dass die neuen Zellen unsere geistige Flexibilität erhöhen oder unsere Fähigkeit, verschiedene Informationen auseinanderzuhalten.
Die Neubildung von Hirnzellen im Hippocampus spielt bei uns also offenbar eine wichtige Rolle – was ihre Erforschung auch so spannend macht. Ich selbst untersuche, wie sich geistige und körperliche Aktivität auf die Neurogenese auswirkt. Beim Menschen bilden sich das ganze Leben über neue Nervenzellen, wobei die Rate der Neubildung mit der Zeit abnimmt – wenn auch nur äußerst langsam. Meine Kollegen und ich haben herausgefunden, dass ein aktives Leben in einer abwechslungsreichen Umgebung die Neurogenese bei Mäusen steigert, und wir vermuten stark, dass das auch für den Menschen gilt. Nun gilt es, diese Erkenntnis einzuordnen. So ist zum Beispiel bekannt, dass Menschen, die sich geistig fit halten oder Sport treiben, ein geringeres Demenzrisiko haben. Hat das vielleicht etwas mit der Neurogenese im Hippocampus zu tun?
Aufgezeichnet von Claudia Christine Wolf
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.