Frage an das Gehirn
Linke und rechte Hirnhälfte - verschiedene Welten?
Veröffentlicht: 15.01.2012
Immer wieder hört man davon, die linke Gehirnhälfte sei fürs analytische und sprachliche Denken da, die rechte eher für ganzheitliches Erfassen und Intuition. Was ist dran an dieser Behauptung?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Prof. Onur Güntürkün, Abteilung Biopsychologie der Universität Bochum: Wie oft bei populären Vorstellungen gibt es einen wahren Kern, zu dem viel Mythos hinzukommt. Richtig ist, dass es durchaus Asymmetrien gibt: Nicht beide Hirnhälften sind für alles gleichermaßen zuständig. So ist die linke Hemisphäre spezialisiert auf viele – aber nicht alle – Sprachprozesse. Links wird etwa die motorische Sprachumsetzung gesteuert, für die tausende kleinster Muskelpartien angesprochen werden müssen. Auch für abstrakte Begriffe wie Freiheit oder Liebe ist überwiegend die linke Hirnhälfte zuständig. Unser Lexikon für konkrete Begriffe wie Laptop oder Kaffeetasse ist dagegen in beiden Gehirnhälften in etwa gleich gut repräsentiert. Und es gibt auch einige rechtshemisphärische Komponenten von Sprache, etwa die Sprachmelodie oder das Lesen zwischen den Zeilen. Und auch außerhalb der Sprache gibt es Asymmetrien in der Aufgabenverteilung: Räumliches Denken, Zahlenverständnis oder Gesichtserkennung sind etwa eher rechts angesiedelt, die Messung kleiner Zeitabstände und Wahrnehmung kleiner Details eher links. Das ist der wahre Kern.
Leider gibt es darüber hinaus extremen Wildwuchs. Da heißt es dann zum Beispiel, die linke Hemisphäre sei fürs analytische, die rechte fürs ganzheitliche Denken da. Das ist aber eine neurowissenschaftlich schlicht falsche Verallgemeinerung des oben Gesagten. Nur weil die rechte Hirnhälfte zwischen den Zeilen lesen kann, ist sie noch lange nicht für alles zuständig, was man unter den Begriff „ganzheitlich“ fassen kann! Gerade in der pädagogischen Literatur wird in dieser Hinsicht aber wild extrapoliert, etwa wird die Fähigkeit zur Empathie in diesen Korb hineingeworfen. Und dann wird zuweilen sogar an Universitäten gelehrt, um sich gut in Schüler hineinzuversetzen, müsse man die rechte Hemisphäre aktivieren, etwa indem man mit der linken Hand die ganze Zeit einen Gummiball quetsche. Dafür gibt es aber aus wissenschaftlicher Sicht keinerlei belastbare Belege – weder dafür, dass die Empathie insgesamt rechts sitzt, noch dafür, dass sich eine Aktivierung motorischer Areale auf andere Bereiche derselben Hemisphäre übertragen würde.
Ebenso ist die Unterscheidung links– und rechtshemisphärisch geprägter Kulturen reiner Mythos. Das kam in den 1960ern in den USA auf, wo es hieß, die moderne, von Logik dominierte US-Gesellschaft sei linkshemisphärisch (und schlecht), die ur-indianische, schamanische Kultur rechtshemisphärisch (und gut). Da wird dann Logik gleich Sprache gleich links gesetzt – auch das ist eine ärgerliche Überinterpretation. Und schließlich muss klar sein, dass auch tatsächlich nachweisbare Asymmetrien nur eine relative Angelegenheit sind: Wenn Hirnscans bei bestimmten Prozessen eine einseitige Aktivierung zeigen, bedeutet das ja nicht, dass der Rest des Gehirns völlig inaktiv wäre. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass letztlich immer beide Seiten zusammenarbeiten – bei Frauen übrigens je nach Zyklusphase mal mehr, mal weniger.
Aufgezeichnet von Ulrich Pontes