Frage an das Gehirn

Können wir Unbekanntes träumen?

Fragesteller/in: Artur Renner via Internet

Veröffentlicht: 14.02.2013

Können wir nur träumen, was wir kennen und erleben, wenngleich auch mitunter völlig durcheinander und zusammenhanglos, oder können wir auch völlig Neues, Unbekanntes träumen?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Dr. Michael Schredl, Schlafforscher am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim:

Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit Trauminhalten und habe über 5000 Träume analysiert. Im Prinzip ist es so, dass wir uns im Traum mit den Dingen befassen, die wir tagsüber wahrgenommen haben und die uns tagsüber beschäftigen sowie mit Dingen, die wir seit längerem im Gedächtnis abgespeichert haben.

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Denn wir können darüber hinaus viel mehr träumen als das, was wir kennen. Das ist durch viele Studien gesichert. Genauso wie im Wachzustand können wir im Traum mit unserer Fantasie neue Dinge schöpfen. Zu träumen, dass wir plötzlich in Tokio sind, obwohl wir noch nie in Tokio waren und auch noch keinen Film über Tokio gesehen haben, ist kinderleicht. Das Monster im Traum muss nicht das Monster sein, das wir im Kino gesehen haben. Es kann ein Monster sein, das wir im Traum neu kreieren. Es ist geradezu ein Wesenszug des Traums, dass er innovativ sein kann.

Der Traum greift vorwiegend Dinge aus der Erinnerung ab, bastelt sich aber immer wieder Neues zusammen. Wir haben einmal eine lange Traumserie analysiert, in der es um Schmerzen ging. Da hat zum Beispiel ein Teilnehmer von einem Traum berichtet, in dem er von einer Gewehrkugel in den Bauch getroffen wurde – was für ihn extrem schmerzhaft war. Das hatte er natürlich noch nie erlebt.

Man kann aber nicht sagen, dass der eine Traum nur auf Realität basiert und der andere nur auf Fantasie. Das Schöpfen neuer Kombinationen von Erlebtem oder von komplett neuen Dingen ist sehr häufig. Ich würde sagen: Die Basis ist fast immer die Erfahrung der Wachrealität, die Fantasie ist das Sahnehäubchen.

Studierende träumen hauptsächlich von der Uni und von Freunden. Kinder träumen viel von Tieren und Ängsten. Ältere träumen oft von ihren Problemen, beispielsweise mit der Gesundheit. Dann gibt es das weite Feld der Alpträume: Da gibt es wiederkehrende Motive wie Fallträume oder Verfolgungsträume, in denen man sich nicht bewegen kann. Ich habe einmal Träume analysiert, die vom Partner oder der Partnerin handelten. Das kommt in 20 Prozent der Träume vor und ist ein häufiges Thema.

In diesem Licht sind Trauminhalte zwangsweise kulturabhängig. Ein Deutscher träumt anders als ein Chinese oder ein Yanomami-​Indianer. Es gibt aber leider nur wenige kulturvergleichende Studien. Klar aber ist, dass es universelle Traumthemen gibt. Das Grundthema ist dabei universell, die Ausgestaltung kulturabhängig. Den Verfolgungstraum zum Beispiel gibt es überall. Aber in der einen Kultur verfolgt einen eher ein Monster, das man aus einem Kinofilm kennt, in der anderen ein gefährliches Tier, das einem öfter begegnet.

Vom Internet und Facebook träumen wir inzwischen auch. Alle modernen Medien kommen im Traum vor. Wir haben allerdings festgestellt, dass kognitive Tätigkeiten – am Computer sitzen, lesen rechnen, schreiben – im Traum unterrepräsentiert sind. Das heißt, das träumende Gehirn beschäftigt sich lieber mit sozialen Interaktionen als beispielsweise mit dem langweiligen Vorlesungsstoff. Aber je mehr Bedeutung der Vorlesungsstoff bekommt, etwa vor einer wichtigen Prüfung, desto eher drängt er sich in den Traum.

Aufgezeichnet von Klaus Wilhelm

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

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