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Author: Eva Eismann

Seit tausenden von Jahren beschäftigt es uns Menschen, was in unserem Gehirn vorgeht. Immer neue Aspekte haben Forscher seitdem entdeckt: Zu Anatomie, Krankheiten, Drogen, unserer Liebe zum Geld – und auch den großen Fragen der Menschheit.

Scientific support: Hubert R. Dinse

Published: 29.09.2015

Difficulty: intermediate

Das Wichtigste in Kürze
  • Schon den antiken Philosophen gab das Gehirn Rätsel auf. Manche ihrer Erkenntnisse sind noch heute gültig, aber der Weg dahin ging über Tier- und sogar Menschenversuche und war bisweilen sehr blutig. Andere Fragen sind bis heute offen.
  • Die Anatomie des Gehirns ist inzwischen gut beschrieben. Mikroskopie und Färbemethoden machten auch feinere Unterteilungen möglich. 
  • Auch die Gehirn-Physiologie haben Forscher in den Grundzügen verstanden. Information wird innerhalb der Nervenzellen elektrisch weitergeleitet; an den Kontaktstellen zwischen zwei Zellen kommen chemische Botenstoffe ins Spiel.
  • Drogen greifen meist an diesen Kontaktstellen, den Synapsen, an. 
  • Das Auslesen der durchschnittlichen elektrischen Aktivität großer Hirnbereiche nutzen heutige Gehirn-Computer-Schnittstellen.
  • Der aktuelle Kenntnisstand der Hirnforschung bietet Antwortansätze auf manche Fragen, die früher eher der Philosophie zugerechnet wurden.
  • Neuroskeptiker weisen aber immer wieder auf die Grenzen der neurowissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit hin. Die Forschung geht weiter.

Gut 3500 Jahre alt ist die bröckelige Schriftrolle, die sechsmal die altägyptischen Hieroglyphen für „Gehirn“ enthält. Der Papyrus Edwin Smith – benannt nach seinem Entdecker, einem Antikenhändler – ist die älteste erhaltene schriftliche Erwähnung dieses Organs. Wie es funktioniert, das haben spätestens die Philosophen der Antike angefangen zu untersuchen.

All diese Furchen: Ganz klar, das Gehirn muss ein ausgeklügeltes Kühlsystem sein für den Sitz unserer Seele im Herzen. So dachte noch Aristoteles (Interner Link: Artistoteles – Das Gehirn als Kühlsystem). Doch auch zu seiner Zeit gab es schon Anatomen, die unterscheiden konnten, welche Nerven Sinneseindrücke transportieren und welche die Muskeln steuern. Der Weg zu dieser Erkenntnis war eine blutige Angelegenheit: Herophil und Erasistratos gewannen ihre Einsichten vermutlich an lebenden Menschen Herophil und Erasistratos — Entdecker der Nerven. Und Galen zerschnitt im zweiten Jahrhundert nach Christus Tiergehirne scheibchenweise von hinten, bis deren Besitzer starben. Krude und mit heutigen Tierschutzrichtlinien unvereinbar – aber ein Anhaltspunkt dafür, wo die lebenswichtigen Teile des Denkorgans sitzen. Und noch lange danach beruhten viele Erkenntnisse über die Funktion einzelner Gehirnabschnitte auf Untersuchungen dessen, was passiert, wenn sie ausfallen.

Durch Beobachtung zur Anatomie des Gehirns

Eine grobe anatomische Einteilung des Gehirns kann man ohne technische Hilfsmittel von außen treffen: An die Großhirnrinde, runzlig wie eine Walnuss, denken wir beim Begriff „Hirn“ als erstes, nimmt sie bei uns Menschen doch auch den größten Teil unterhalb des Schädels ein. Davon unterscheidet sich das Kleinhirn allein schon durch die kleinteiligere Faltung. Dazwischen versteckt sich das Zwischenhirn mit Zirbeldrüse, Hirnanhangdrüse und all seinen verschiedenen Funktionen. Und auch der Hirnstamm am Übergang zum Rückenmark liegt unter all den Falten verborgen. Er steuert zahlreiche unbewusste, aber überlebensnotwendige Vorgänge im Körper Anatomie.

Woher man das weiß? Weil Patienten das große Zittern bekommen, wenn bestimmte Teile des Hirnstamms geschädigt sind, sie nicht mehr richtig atmen können oder einen Teil ihres Körpers nicht spüren. Entzündung, Schlaganfall, Gehirnerschütterung – es gibt genug traurige Anlässe, die quasi natürliche Testobjekte für Hirnforscher schaffen Aus der Balance.

Und erst die Kriege: Die ersten Erkenntnisse über die Funktion des Kleinhirns verdanken wir der Beobachtung, dass Soldaten mit Verletzungen in diesem Bereich des Gehirns Probleme mit der Bewegung hatten. Je bizarrer der Unfall, desto länger bleibt er im kollektiven Gedächtnis. Der Eisenbahnarbeiter Phineas Gage etwa erwarb 1848 ewigen Ruhm, als ihm eine Eisenstange in die linke Wange flog und am Schädeldach wieder hindurch brach. Gage überlebte, große Teile seines Frontallappens nicht. Und auch seine Persönlichkeit hatte sich dramatisch verändert – noch heute gilt der Präfrontalcortex als besonders wichtig für Persönlichkeit und Charakter.

Zu Gages Zeit konnten Ärzte den Ort der Verletzung nur anhand der Furchen in der Hirnoberfläche grob einordnen. Daraus ergibt sich auch die Unterteilung in Stirnlappen, Schläfenlappen, Scheitellappen und Hinterhauptslappen. Abgesehen davon aber gibt sich der Cortex gleichförmig grau und langweilig.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Das Gehirn in Farbe

Erst mit der Erfindung künstlicher Farbstoffe zeigten sich unter dem Mikroskop die Nervenzellen. Anhand ihrer Anordnung unterteilte Korbinian Brodmann 1909 den Cortex in 43 Bereiche, die er Areale nannte. Viele dieser Brodmann-​Areale sind tatsächlich auf unterschiedliche Funktionen spezialisiert, so dass seine Areal-​Einteilung bis heute verwendet wird. Und als Camillo Golgi 1873 eine Methode entdeckte, einzelne Nervenzellen mit all ihren Ausläufern sichtbar zu machen, rückten immer mehr auch diese Nervenzellen selbst in den Fokus der Forschung Auf der Spur der Zellkommunikation. Die Glia-​Zellen erschienen zunächst weniger wichtig, obwohl sie im Gehirn ähnlich häufig sind und viele wichtige Funktionen erfüllen Gliazellen – Unterschätzter Klebstoff.

Wie Nervenzellen miteinander kommunizieren, ist das Fachgebiet der Physiologen. Und die hatten zu Golgis Zeiten auch schon das ein oder andere erforscht. Offensichtlich spielte Elektrizität eine Rolle: Wenn auf einen Reiz hin genügend elektrische Ladungsträger in die Zelle strömen, entsteht ein so genanntes Aktionspotenzial, das die Information rasch entlang der Längsachse der Nervenzelle zur nächsten trägt. Aber an den Kontaktstellen zwischen den Zellen, den Synapsen, setzen die meisten von ihnen chemische Botenstoffe frei, so genannte Neurotransmitter, die von Rezeptoren auf der gegenüberliegenden Zelle erkannt werden. Selbst nach mehreren Nobelpreisen für die Erforschung der Synapsen sind wir aber noch weit davon entfernt, dieses System vollständig zu verstehen Köpfe und Ideen.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2

Drogen verändern die Zellkommunikation

Das hindert uns nicht, daran herumzuspielen. Die meisten Drogen – und dazu zählen auch Nikotin und Koffein – wirken an Synapsen, zum Beispiel im so genannten Belohnungssystem des Gehirns. Sie nehmen die Rolle eines Neurotransmitters ein und aktivieren dessen Rezeptoren. Oder sie sorgen dafür, dass ein Botenstoff vermehrt ausgeschüttet wird oder er länger in der Synapse wirken kann. Je nachdem, welche Nervenzellen genau betroffen sind, sieht und hört der Drogenkonsument dann etwa Dinge, die nicht da sind, oder fühlt eine unbegründete Euphorie Göttergabe und Teufelszeug.

Deutlich weiter vom Ort des Geschehens entfernt setzen bisher Computer-​Hirn-​Schnittstellen an. Der Versuch, Computerprogramme oder Prothesen nur mit Gedankenkraft zu steuern, beruht bisher meist darauf, an der Kopfoberfläche Spannungsschwankungen zu messen, die auf der Aktivität aller darunter liegenden Nervenzellen beruhen. Feiner können diese Daten Chips auslesen, die direkt ins Gehirn implantiert werden. Aber selbst diese haben bisher Rollstühle noch nicht überflüssig gemacht Mensch-​Maschine-​Kommunikation – so geht’s.

Große Fragen

Währenddessen nutzen Wissenschaftler das vorhandene Wissen über das Gehirn als Grundlage, die Fragen nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest anzugehen, um mal mit Douglas Adams zu sprechen Große Fragen:

Dabei sind auch die kleinen Fragen schon spannend genug: Warum kaufen wir diese und nicht jene Limonade? Schon wieder ist das Gehirn schuld. Die Neuroökonomie untersucht Bilder von Gehirnen, die gerade entscheiden müssen, wie sie ihre Ressourcen einsetzen. Sie zeigt zum Beispiel, wie wenig sich Menschen im Alltag wie ein Homo oeconomicus verhalten: Nicht allein kalte Logik bestimmt, was wir kaufen, mit wem wir teilen, oder wie uns Geld motiviert, sondern jede Menge Gefühle Geld und Gehirn — eine irrationale Liaison.

… und große Kritik

Angesichts so hoher Erklärungsansprüche seitens der Neurowissenschaften gibt es natürlich auch Kritik. Die so genannten Neuroskeptiker hinterfragen, was die Neurowissenschaften wirklich beantworten können. Ist zum Beispiel über die Lust schon alles gesagt, wenn Forscher feststellen, dass sie mit hohen Dopamin– und Endorphin-​Konzentrationen in bestimmten Hirnregionen einhergeht?

Vor allem die trügerisch einfachen bunten Bilder aus dem fMRT-​Hirnscanner sind den Kritikern ein Dorn im Auge. Viele Rechenschritte und Entscheidungen über Verarbeitungsprozesse liegen auf dem Weg zu so einem Bild, betonen sie immer wieder – und warnen vor überzogenen Interpretationen. Zu Recht, sollte man meinen, wenn mit den gleichen Methoden sogar tote Lachse Hirnaktivität zeigen. Angesichts solcher Befunde misstrauen die Skeptiker auch den Großprojekten, die innerhalb weniger Jahre das menschliche Gehirn möglichst detailgetreu nachbilden wollen (Human Brain Project) oder eine Landkarte all seiner Aktivitäten zu erstellen hoffen (BRAIN Initiative). Größenwahn, sagen sie Neuroskeptizismus: Im Zweifel gegen den Angeklagten.

Offenbar ist das Gehirn deutlich komplizierter, als führende Neurowissenschaftler noch 2004 gedacht haben, als sie in einem Manifest im Magazin Gehirn & Geist die Zukunft der Hirnforschung skizzierten. Das sagt selbst Nobelpreisträger und Gedächtnisforscher Eric Kandel im Interview: „Die Wissenschaft vom Gehirn ist [erst] am Anfang.“ Dann bleibt wohl umso mehr noch für uns zu entdecken.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

zum Weiterlesen:

  • Principles of Neural Science, 5. Ausgabe, hg. von Eric R. Kandel, James H. Schwartz, Thomas M. Jessell, Steven A. Siegelbaum und A. J. Hudspeth, New York (2012)
  • Das Manifest – Was wissen und können Hirnforscher heute? Bei: Spek​trum​.de [Stand: 29.09.2015]
  • Hirnaktivität beim toten Lachs – Konferenzposter (englisch) des Gewinners des Ig-​Nobelpreises 2012 [Stand: 29.09.2015]

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