Der unendliche Schmerz

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chronische Schmerzen
Author: Anna Corves

Wenn Schmerzen chronisch werden, ist das für die Betroffenen eine Qual – nicht zuletzt, weil sich die Behandlung oft schwierig gestaltet. Neue medizinische Ansätze beziehen auch die Psyche in die Therapie ein.

Scientific support: Prof. Dr. Peter W. Reeh

Published: 17.07.2018

Difficulty: intermediate

Das Wichtigste in Kürze
  • Etwa 3,4 Millionen Deutsche leiden an chronischen Schmerzen.
  • Als chronisch bezeichnet man Schmerzen, die zwischen drei und sechs Monaten anhalten und das Leben der Betroffenen stark beeinflussen.
  • Chronische Schmerzen haben meist unterschiedliche Ursachen. Ein Faktor ist oft eine Veränderung der Schmerzsensoren, die mehr Rezeptoren ausbilden und empfindlicher auf Schmerzreize reagieren: das so genannte Schmerzgedächtnis.
  • Moderne Schmerztherapie versucht, bereits die Ausbildung des Schmerzgedächtnisses zu verhindern. Üblich ist auch eine medikamentöse Behandlung.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Schmerzgedächtnis

Schmerzgedächtnis/-/pain memory

Aus einem akuten Schmerz kann ein chronischer werden, wenn er längerfristig auftritt. Hier zeigt sich, wie plastisch – wie lernfähig – das Nervensystem ist: Es reichen auch schon leichte Auslöser, um eine Schmerzempfindung hervorzurufen.

Die Schmerzen der Dichter und Denker

Hildegard von Bingen litt darunter, Napoleon und auch Tolstoi – chronische Schmerzen waren auch in früheren Zeiten für manche ein lebenslanger Begleiter. Dennoch sah der Romantiker Novalis Ende des 18. Jahrhunderts im Ertragen und Erleiden von Schmerzen eine Lebenschance. “Man sollte stolz auf den Schmerz sein – jeder Schmerz ist eine Erinnerung hohen Ranges.” Was heute auf Betroffene sicherlich zynisch wirkt, zeugt davon, dass sich der Umgang mit Schmerz kulturgeschichtlich gewandelt hat. So schrieb auch Friedrich Schiller, selbst unter chronischen Brustschmerzen leidend, von der “Ruhe im Leiden, als worin die Würde eigentlich besteht.”

Möglich, dass er schlicht aus der Not eine Tugend machte, schließlich gab es seinerzeit noch keine wirksamen Mittel gegen Schmerz – der Pionier der Schmerzmittel, Aspirin, kam 1899 in die Apotheken. Aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts etablierten Expressionisten wie der Arzt Gottfried Benn oder Georg Heym das Verständnis von Schmerz als etwas Beklagenswertes, das man nicht einfach hinnehmen, sondern bekämpfen sollte.

“Ich habe ständige Schmerzen. Das schneidet, das rührt, das sticht im Arm, wie ein Gewitter, und dazu kommen auch noch ganz schlimme, plötzlich einschießende Schmerzen, die brennen.” (Uwe Ciecior, 47 Jahre, Unfallopfer).

Er ist immer da, jeden einzelnen Tag, seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Kinder sind unterdessen groß geworden, haben das Haus verlassen, ihn zum Großvater gemacht. Der Schmerz ist geblieben und wird niemals aufhören. Mit ihm ist das Leben mal die Hölle, manchmal ist es auch mit ihm, trotz ihm, ganz lebenswert. Uwe Ciecior aus Jena ist seit einem Motorradunfall im Jahr 1997 chronisch schmerzkrank.

So wie er leiden der Deutschen Schmerzliga zufolge mindestens 3,4 Millionen Bundesbürger an schweren Dauerschmerzen; am meisten verbreitet sind Rücken-, Kopf- und rheumatische Schmerzen. Als chronisch gelten sie dann, wenn sie mindestens drei bis sechs Monate anhalten und das Leben des Betroffenen stark beeinflussen.

Wenn die Schmerzrezeptoren überreagieren

Biologisch gesehen ist Schmerz eigentlich eine gute Sache. Er signalisiert dem Gehirn, dass etwas im Körper nicht richtig funktioniert, ist also ein Warnsignal. Klassisch-physiologischer Schmerz entsteht üblicherweise durch einen starken Reiz, etwa bei einer Verletzung, Überdehnung, durch zu viel Hitze, Kälte oder Verätzung durch Chemikalien. Auf diesen Reiz reagieren die so genannten Nozizeptoren, deren Name sich vom lateinischen Verb “nocere” ableitet, das “schaden” bedeutet. Die Nozizeptoren sind freie Nervenendigungen, die in fast allen Körpergeweben wie Haut, Knochen, Muskeln und inneren Organen sitzen. Ihre Erregung wird über das Rückenmark zur Hirnrinde geleitet, die sie bewertet und die Schmerzempfindung bewusst werden lässt.

“Ich bin hier auf dem Teppich wochenlang immer nur hin- und hergelaufen, jammernd, meinen Arm haltend. Habe geschrien, mit einem Lappen im Mund, der Nachbarn wegen. Sie können bei so etwas ja auch keinen Notarzt rufen. Das heißt: Sie können schon, aber der kann ja auch nichts machen.”

Nervenzellen lernen schnell. Wenn sie über einen längeren Zeitraum immer wieder Schmerzimpulsen ausgesetzt sind – nach einer Verletzung, bei mangelhaft behandelten akuten Schmerzen – verändern sie ihre Struktur, ihren Stoffwechsel. Sie bilden vermehrt Rezeptoren aus, die schon bei schwachen Reizen oder sogar ohne jeglichen Reiz Schmerzsignale an das Gehirn weiterleiten. Die Nervenimpulse verselbständigen sich, die Zelle kann nicht mehr abschalten: Sie hat ein so genanntes Schmerzgedächtnis entwickelt. Der Schmerz ist nicht länger ein nützliches Warnsignal – er ist selbst zur Krankheit geworden.

Ob die überaktiven Nozizeptoren jedoch einen Schmerz auslösen, hängt auch davon ab, wie das Gehirn auf ihre Erregung reagiert. Selbst wenn die Nervenendigungen ununterbrochen feuern, kann der gefühlte Schmerz kommen und gehen – manchmal fühlt man auch Schmerz, obwohl die Nozizeptoren gar nicht aktiv sind. Das zeigt, wie stark auch die Psyche das eigene Schmerzempfinden beeinflussen kann.

Rückenmark

Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord

Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-​, Thorakal-​, Lumbal und Sakralmark unterteilt.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Schmerzgedächtnis

Schmerzgedächtnis/-/pain memory

Aus einem akuten Schmerz kann ein chronischer werden, wenn er längerfristig auftritt. Hier zeigt sich, wie plastisch – wie lernfähig – das Nervensystem ist: Es reichen auch schon leichte Auslöser, um eine Schmerzempfindung hervorzurufen.

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Medikamente gegen die Symptome

“Ich habe alles Mögliche verschrieben bekommen: Morphium, Opiate, Fentanyl, Ketamin, Methadon und so weiter. Am Anfang helfen die schon, aber auf Dauer nicht, da bleiben nur die starken Nebenwirkungen. Ich musste einen richtigen Entzug von diesen Schmerzmitteln machen, der war heftig.”

In der Schmerztherapie spielt die Medikation eine Hauptrolle. Ärzte orientieren sich dabei an einem Schema der Weltgesundheitsorganisation, das drei Schmerzstufen unterscheidet. Bei leichten Schmerzen sorgen Entzündungshemmer wie Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen für Linderung. Mittelstarke Schmerzen können mit schwachen Opioiden behandelt werden. Gegen starke Schmerzen hingegen helfen nur starke Opioide wie Morphin. Seit einiger Zeit kommen auch Antidepressiva und Antiepileptika in der Schmerztherapie unterstützend zum Einsatz.

All diese Mittel hemmen entweder schon die Entstehung oder die Übertragung von Schmerz durch die Nervenfasern. Jedoch haben sie oft schwere Nebenwirkungen oder bergen das Risiko von Abhängigkeiten. Die Suche nach anderen Wirkstoffen geht daher weiter. So wurden zum Beispiel auch Cannabinoide nach ihrem Nutzen untersucht, und seit März 2017 können Ärzte ihren Patienten auch in Deutschland Cannabis auf Rezept verordnen, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

Da es viele verschiedene Arten von chronischen Schmerzen gibt, denen stets ein ganzes Ursachenbündel zugrunde liegt, ist ihnen in der Behandlung nur schwer beizukommen. Darum wird immer mehr Augenmerk auf die Prävention gerichtet, an der oft unterschiedliche Disziplinen beteiligt sind. So arbeiten etwa Anästhesisten und Chirurgen zusammen, um akute Schmerzen nach einer Operation zu behandeln, damit sich erst gar kein Schmerzgedächtnis ausbildet – ein lange Zeit vernachlässigter Ansatzpunkt zur Bekämpfung chronischer Schmerzen.

Acetylsalicylsäure

Acetylsalicylsäure/-/acetylsalicylic acid

Pharmazeutischer Wirkstoff gegen Schmerz, Fieber und Entzündung – bekanntestes Schmerzmittel mit diesem Wirkstoff ist Aspirin.

Morphin

Morphin/-/morphine

Morphin ist je nach Dosis ein potentes Schmerzmittel oder eine bewusstseinsverändernde Droge. Synthetisiert aus dem Samen der Mohnblume und benannt nach dem griechischen Gott des Traumes bindet Morphin an die Opioidrezeptoren des Gehirns.

Schmerzgedächtnis

Schmerzgedächtnis/-/pain memory

Aus einem akuten Schmerz kann ein chronischer werden, wenn er längerfristig auftritt. Hier zeigt sich, wie plastisch – wie lernfähig – das Nervensystem ist: Es reichen auch schon leichte Auslöser, um eine Schmerzempfindung hervorzurufen.

Zusammenhang von Körper und Geist

Auch dem Zusammenhang von körperlichem Schmerz und der Psyche wird in der Therapie Rechnung getragen. Hier hat sich das so genannte biopsychosoziale Schmerzkonzept durchgesetzt, das Schmerz als Produkt komplexer Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren versteht. In modernen Spezialambulanzen arbeiten daher neben Anästhesisten auch verschiedene Therapeuten, Orthopäden und Neurologen. Sie versuchen, sowohl den physischen Vorgang der chronischen Schmerzleitung zu unterbrechen, als auch die Schmerzverarbeitung des Betroffenen zu verändern, etwa mit autogenem Training oder auch durch Psychotherapie. Dabei muss ein Umstand besonders berücksichtigt werden:

“Schmerzen sind etwas absolut Subjektives, die kann kein anderer nachvollziehen.”

Der Arzt Dietrich Jungck, einer der deutschen Vorreiter in Sachen Schmerztherapie, hat in einem Beitrag einmal die psychische Verfassung von Patienten mit chronischen Schmerzen analysiert. Demzufolge durchleben die Patienten verschiedene Phasen: Erst versuchen sie, die Schmerzen zu bagatellisieren, sie zu verleugnen. Geht das nicht mehr, werden sie wütend, hadern mit ihrem Schicksal, warten ungeduldig auf ein Ende der Pein. Irgendwann stellt sich Resignation ein, depressive Züge können auftreten. Der Schmerzpatient zieht sich zurück, oft wenden sich auch die Mitmenschen überfordert ab. Nur wenige Patienten schaffen es, diese Stufe zu überwinden, die Krankheit zu akzeptieren, sie aktiv in ihr Leben und ihre Zukunftspläne zu integrieren.

So wie Unfallopfer Uwe Ciecior:“Das hält man nur durch, wenn man jemanden hat, der an einen glaubt. Ich habe Kinder, Enkelkinder, eine Liebste. Ohne Familie, ohne soziale Kontakte wäre ich nicht mehr hier, das hätte ich mir nicht mehr angetan.”

Veröffentlichung am: 14.08.2011
Aktualisierung am: 17.08.2018

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