Die Kehrseiten des Gedächtnisses
Gedächtnisinhalte, die man lieber vergessen möchte, sind schwer zu löschen, etwa wenn es um Schmerzen oder traumatische Ereignisse geht. In manchen Fällen gelingt es, Erinnerungen zu überschreiben – aber nur mit viel Arbeit und Mühe.
Scientific support: Prof. Dr. Hans J. Markowitsch
Published: 27.07.2018
Difficulty: serious
- So unabdingbar das Gedächtnis ist – es trägt auch entscheidend zur Entstehung von chronischen Schmerzen, Sucht und posttraumatischen Belastungssyndromen bei.
- Schmerzen werden chronisch, wenn der Körper lernt, auf Reize überzureagieren. Synapsen verstärken ihre Erregungsweiterleitung und der Schmerz verselbstständigt sich.
- Bei Patienten mit einem posttraumatischen Belastungssyndrom ist das emotionale Gedächtnis überaktiv; das Gedächtnis, das Geschehnisse einordnet, ist jedoch gestört. Die richtige Therapie schafft im Gedächtnissystem wieder Ordnung.
- Verknüpft das Gehirn die Einnahme einer Substanz unausweichlich mit einer angenehmen Erfahrung, besteht die Gefahr, abhängig zu werden.
„Das gebrannte Kind scheut das Feuer“ lautet ein Sprichwort. Und es stimmt: Wer sich einmal an der heißen Herdplatte weh getan hat, ist in Zukunft vorsichtiger. Schmerzen warnen vor Gefahr, und die Erinnerung daran ermahnt dazu, diese Gefahr von nun an zu meiden. Dasselbe gilt für andere schlechte Erfahrungen, die wir gemacht haben – wir lernen aus ihnen. Aber hin und wieder läuft diese nützliche Einrichtung aus dem Ruder: Dann werden Schmerzen chronisch oder ein schlimmes Erlebnis traumatisiert den Betroffenen und quält ihn rund um die Uhr. Auch Erinnerungen an angenehme Erfahrungen können schaden – nämlich, wenn sie abhängig machen.
Schmerzliche Erinnerungen durch veränderte Synapsen
Schmerzrezeptoren – die Nozizeptoren – sind freie Nervenendigungen in der Haut. Sie geben Alarm bei einer tatsächlichen oder drohenden Verletzung von Gewebe, etwa durch Hitze, Säureeinwirkung oder einen Nadelstich. Im Rückenmark schütten ihre Fasern Botenstoffe wie Glutamat oder ein Neuropeptid namens Substanz P aus, woraufhin Nervenzellen ihre Ionenkanäle öffnen und depolarisieren. Noch bevor der so in ein elektrisches Signal umgewandelte Schmerzreiz in der Großhirnrinde ankommt und in unser Bewusstsein dringt, werden bereits Reflexe ausgelöst, um die Gefahr zu bannen: Man zieht die Hand automatisch von der heißen Herdplatte weg.
Nozizeptoren adaptieren nicht: Selbst, wenn wir mehrmals täglich unsere Hand auf die heiße Herdplatte legen, werden wir das auch nach vielen Wochen noch immer als gleichermaßen schmerzhaft empfinden. Dennoch ist das Nervensystem nicht starr, sondern verändert sich ständig. So kann die Schmerzschwelle durchaus sinken, wenn Schmerzen wiederholt auftreten. Schon kleinste Berührungen rufen dann starke, anhaltende Pein hervor – der Körper hat ein Schmerzgedächtnis entwickelt. Die Anpassungsfähigkeit des Nervensystems – Fachleute sprechen von neuronaler Plastizität basiert unter anderem darauf, dass sowohl die elektrische Erregung, die zwischen zwei Nervenzellen ausgetauscht wird, als auch die zwischen den Neuronen bestehenden Verbindungen – die Synapsen – sich auf lange Zeit verstärken können, wenn ein Reiz regelmäßig auftritt. Die Nervenzellen lesen dann vermehrt bestimmte Gene ab und stellen bestimmte Eiweiße in höherer Zahl her – beispielsweise solche für Ionenkanäle oder für Rezeptoren. Das ist die Grundlage von Lernen und Gedächtnis – leider auch für das Schmerzgedächtnis.
Tendenz zur Verselbständigung
Akute Schmerzen sind exakte, zeitlich und räumlich begrenzte Warnsignale des Körpers – chronische Schmerzen hingegen sind diffus, halten über mehrere Monate an und haben die Tendenz, sich zu verselbstständigen – vom eigentlichen schmerzauslösenden Reiz unabhängig zu werden. Da die Betroffenen wissen, dass ihnen bestimmte Bewegungen wehtun und sie sich vor dem Schmerz fürchten, meiden sie gewisse Tätigkeiten. Mit Schmerzmitteln alleine kommt man dann oft nicht mehr weiter, denn ist deren Wirkung verklungen, kehren die Schmerzen mit gleicher Heftigkeit zurück.
„Chronischer Schmerz ist ein gelerntes Verhalten, ein in Körper und Geist abgespeichertes Programm, das mit der richtigen Therapie überschrieben werden kann“, sagt Walter Zieglgänsberger vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie (jetzt emeritiert). Die Lösung: Ein starkes Schmerzmittel schaltet den Schmerz vorübergehend aus – und in dieser Zeit muss der Patient genau die Übungen machen, die ihm ansonsten so viel Schmerzen bereiten. Um dabei zu merken: Diese Bewegung verursacht ja gar keinen Schmerz, seine Erwartung war falsch. Solche überraschenden Erfahrungen prägen wir uns besonders gut ein; sie überschreiben dann das alte Programm, das Schmerzgedächtnis.
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Quälende Erinnerungen nach traumatischen Erlebnissen
Folter, Vergewaltigung, Krieg, aber auch der Tod eines Angehörigen können eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD für engl. Post-traumatic stress disorder) auslösen. Die Traumaszene kehrt dann immer wieder urplötzlich ins Bewusstsein zurück und ruft körperliche Reaktionen hervor: Herzklopfen, Schweißausbrüche, Zittern. Betroffene leiden unter Alpträumen, Angstzuständen und umgehen alle Situationen, Menschen oder Gegenstände, die sie mit dem schrecklichen Erlebnis assoziieren.
Realität und Vorstellung verschwimmen dabei oft – PTSD-Patienten erinnern sich meist nur an Fragmente des traumatischen Ereignisses. Einer gängigen Theorie zufolge ist das implizite Gedächtnis in der Amygdala, sprich die Erinnerung an Emotionen, bei den Traumatisierten verstärkt aktiv, dort wurde das Erlebte und die damit einhergehenden Gefühle unverhältnismäßig gut abgespeichert. Das explizite Gedächtnis im Hippocampus, das Erinnerungen räumlich-zeitlich einordnet, ist hingegen gestört, ebenso Funktionen im präfrontalen Cortex, der die Amygdala kontrolliert. Bei einer Therapie gilt es, wieder Ordnung in das Gedächtnissystem des Traumatisierten zu bringen. Er muss beispielsweise das belastende Ereignis detailliert aufschreiben oder aus Sicht eines teilnahmslosen Beobachters davon berichten. Sinn und Zweck des Ganzen: Das explizite Gedächtnis anregen, damit es die Oberhand über die emotionalen Erinnerungen gewinnt.
Ein in den USA entwickeltes Behandlungskonzept – das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) –hat sich in ersten Studien als besonders effektiv und schonend zur Therapie von Traumata erwiesen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass ein Schlafender während der REM-Phase, wenn sich seine Augen schnell hin und her bewegen, Ereignisse des Tages verarbeitet. Bei der EMDR-Therapie schildert der Patient dem Therapeuten sein Trauma und konzentriert sich dann gedanklich auf eine besonders belastende Szene, friert sie praktisch im Kopf ein. Gleichzeitig verfolgt er mit den Augen langsame Fingerbewegungen des Therapeuten. Die Augenbewegungen aktivieren dann offenbar die Selbstheilungskräfte des Gehirns. Wie genau die EMDR-Methode wirkt, ist allerdings noch unklar.
Neue Forschungen zeigen, dass der REM-Schlaf vor allem mit prozeduralen und weniger mit biographischen Gedächtnisanteilen zu tun hat. Eine inzwischen wahrscheinliche Erklärung ist, dass durch die Augenbewegungen beide Hemisphären aktiviert werden und damit eine Integration emotionaler (rechte Hemisphäre) und kognitiver Bestandteile (linke Hemisphäre) erreicht wird. Beide Gedächtnisanteile machen erfolgreiches biographisches Erinnern aus.
Belastungsstörung
Belastungsstörung/-/stress disorder
Als Belastungsstörung wird in der Psychologie die pathologische Reaktion auf dauerhaften oder kurzfristig sehr hohen Stress wie bspw. bei Traumata bezeichnet. Unterschieden werden die akute Belastungsstörung, auch als Nervenzusammenbruch bezeichnet, und die posttraumatische Belastungsstörung. In beiden Fällen kommt es zu den gleichen Symptomen, wobei sie bei der akuten Belastungsstörung nicht länger als vier Wochen andauern.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Darüber hinaus ist sie an der Verknüpfung von Emotionen mit Erinnerungen, der emotionalen Lernfähigkeit sowie an sozialem Verhalten beteiligt. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
Wenn angenehme Erlebnisse abhängig machen
Doch nicht nur schreckliche sondern auch angenehme Erlebnisse haben das Potenzial, sich besonders tief ins Gedächtnis einzugraben – und so sogar zu einer Abhängigkeit zu führen. Im Grunde genommen kann alles, was in einem selbst angenehme Gefühle weckt, süchtig machen, sei es Sport, Arbeit oder chemische Substanzen wie Kokain und Heroin. Manchmal ist es auch nur das befriedigende Gefühl, einer körperlichen Sucht nachzugeben, wie beim Rauchen: Ein Nichtraucher empfindet beim Ziehen an einer Zigarette keinen Genuss, sondern nur Ekel.
Der zum Belohnungssystem gehörende Nucleus accumbens spielt für das Entstehen einer Sucht eine entscheidende Rolle: Zu ihm ziehen Fasern aus dem ventralen Tegmentum – sie sorgen dort für die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin – was dann Glücksgefühle auslöst. So belohnt die Natur eigentlich lebens- oder arterhaltende Aktivitäten wie Essen oder Sex. Aber auch Substanzen, die eher lebensverkürzend wirken wie Nikotin, Alkohol oder harte Drogen, greifen in den Dopamin-Mechanismus ein. Es wäre zu einfach zu sagen, dass diese potenziell suchterzeugenden Stoffe die Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens anregen, denn das Belohnungssystem ist ein komplizierter Mechanismus, an dem sehr viele Gehirnareale und Neurotransmitter beteiligt sind. In jedem Fall lösen gewisse Substanzen über eine Aktivierung des Belohnungssystems Glücksgefühle aus — und das merken wir uns. So entwickelt sich ein Suchtgedächtnis. Der Stoff wird in unserer Erinnerung fest mit dem Glücksgefühl verknüpft. Konsequenz: Wir wollen und brauchen die Substanz jetzt regelmäßig und sehnen uns danach, wenn wir sie nicht bekommen (siehe: Sucht — Motivation zu schlechten Zielen).
Das Suchtgedächtnis gilt als löschungsresistent: Wer einmal Alkoholiker war, sollte nie wieder Alkohol trinken, sonst erleidet er mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Rückfall. Im Jahre 2000 sorgte daher eine Studie mit Versuchstieren für viel Wirbel. Die Forscher Jochen Wolffgramm und Andrea Heyne vom Universitätsklinikum Tübingen gaben an, das Suchtgedächtnis bei opiatabhängigen Ratten gelöscht zu haben. Sie hatten die Tiere mit Stresshormonen behandelt und ihnen danach die Droge verabreicht – allerdings nicht, wenn die Nager danach gierten, sondern zu unregelmäßigen Zeitpunkten.
Das Resultat: „Alle süchtigen Ratten haben ihre Sucht verloren – total und komplett“, so Wolffgramm. Groß wurde verkündet, dass diese Methode nun auch an heroinabhängigen Menschen getestet werde. Wolffgramm gründete sogar eine Firma und meldete Patent auf seine Therapie an. Allerdings ist über den Ausgang der Studie am Menschen nichts bekannt, und das gegründete Unternehmen ist bereits insolvent. Offensichtlich scheint das Suchtgedächtnis doch hartnäckiger zu sein, als die Forscher gehofft hatten.
Dopamin
Dopamin/-/dopamine
Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.
zum Weiterlesen:
- Neurowissenschaften und Traumatherapie — Grundlagen und Behandlungskonzepte, hg. von Stefan Jacobs, Göttingen 2009. (zum Text).
- Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz; URL: http://www.neuro.med.tu-muenchen.de/dfns/index.html [Stand: 2002]; zur Webseite.
Veröffentlichung am 15.08.2011
Aktualisierung am 27.07.2018