Die Kehrseiten des Gedächtnisses

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Kehrseite des Gedächtnis

Gedächtnisinhalte, die man lieber vergessen möchte, sind schwer zu löschen, etwa wenn es um Schmerzen oder traumatische Ereignisse geht. In manchen Fällen gelingt es, Erinnerungen zu überschreiben – aber nur mit viel Arbeit und Mühe.

Scientific support: Prof. Dr. Hans J. Markowitsch

Published: 27.07.2018

Difficulty: serious

Das Wichtigste in Kürze
  • So unabdingbar das Gedächtnis ist – es trägt auch entscheidend zur Entstehung von chronischen Schmerzen, Sucht und posttraumatischen Belastungssyndromen bei.
  • Schmerzen werden chronisch, wenn der Körper lernt, auf Reize überzureagieren. Synapsen verstärken ihre Erregungsweiterleitung und der Schmerz verselbstständigt sich.
  • Bei Patienten mit einem posttraumatischen Belastungssyndrom ist das emotionale Gedächtnis überaktiv; das Gedächtnis, das Geschehnisse einordnet, ist jedoch gestört. Die richtige Therapie schafft im Gedächtnissystem wieder Ordnung.
  • Verknüpft das Gehirn die Einnahme einer Substanz unausweichlich mit einer angenehmen Erfahrung, besteht die Gefahr, abhängig zu werden.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Synapse

Synapse/-/synapse

Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.

„Das gebrannte Kind scheut das Feuer“ lautet ein Sprichwort. Und es stimmt: Wer sich einmal an der heißen Herdplatte weh getan hat, ist in Zukunft vorsichtiger. Schmerzen warnen vor Gefahr, und die Erinnerung daran ermahnt dazu, diese Gefahr von nun an zu meiden. Dasselbe gilt für andere schlechte Erfahrungen, die wir gemacht haben – wir lernen aus ihnen. Aber hin und wieder läuft diese nützliche Einrichtung aus dem Ruder: Dann werden Schmerzen chronisch oder ein schlimmes Erlebnis traumatisiert den Betroffenen und quält ihn rund um die Uhr. Auch Erinnerungen an angenehme Erfahrungen können schaden – nämlich, wenn sie abhängig machen.

Schmerzliche Erinnerungen durch veränderte Synapsen

Schmerzrezeptoren – die Nozizeptoren – sind freie Nervenendigungen in der Haut. Sie geben Alarm bei einer tatsächlichen oder drohenden Verletzung von Gewebe, etwa durch Hitze, Säureeinwirkung oder einen Nadelstich. Im Rückenmark schütten ihre Fasern Botenstoffe wie Glutamat oder ein Neuropeptid namens Substanz P aus, woraufhin Nervenzellen ihre Ionenkanäle öffnen und depolarisieren. Noch bevor der so in ein elektrisches Signal umgewandelte Schmerzreiz in der Großhirnrinde ankommt und in unser Bewusstsein dringt, werden bereits Reflexe ausgelöst, um die Gefahr zu bannen: Man zieht die Hand automatisch von der heißen Herdplatte weg.

Nozizeptoren adaptieren nicht: Selbst, wenn wir mehrmals täglich unsere Hand auf die heiße Herdplatte legen, werden wir das auch nach vielen Wochen noch immer als gleichermaßen schmerzhaft empfinden. Dennoch ist das Nervensystem nicht starr, sondern verändert sich ständig. So kann die Schmerzschwelle durchaus sinken, wenn Schmerzen wiederholt auftreten. Schon kleinste Berührungen rufen dann starke, anhaltende Pein hervor – der Körper hat ein Schmerzgedächtnis entwickelt. Die Anpassungsfähigkeit des Nervensystems – Fachleute sprechen von neuronaler Plastizität basiert unter anderem darauf, dass sowohl die elektrische Erregung, die zwischen zwei Nervenzellen ausgetauscht wird, als auch die zwischen den Neuronen bestehenden Verbindungen – die Synapsen – sich auf lange Zeit verstärken können, wenn ein Reiz regelmäßig auftritt. Die Nervenzellen lesen dann vermehrt bestimmte Gene ab und stellen bestimmte Eiweiße in höherer Zahl her – beispielsweise solche für Ionenkanäle oder für Rezeptoren. Das ist die Grundlage von Lernen und Gedächtnis – leider auch für das Schmerzgedächtnis.

Nozizeptor

Nozizeptor/-/nociceptors

Nozizeptoren sind die Schmerzrezeptoren im Körper. Sie reagieren auf spitze Reize, auf Hitze oder auf chemische Reize wie Säure.
Sie reagieren also auf eine drohende oder bereits eingetretene Verletzung von Gewebe. Beim menschlichen Körper gibt es in jedem Gewebe Nozizeptoren außer im Gehirn und der Leber.

Rückenmark

Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord

Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-​, Thorakal-​, Lumbal und Sakralmark unterteilt.

Glutamat

Glutamat/-/glutamate

Glutamat ist eine Aminosäure und der wichtigste erregende (exzitatorische) Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient.

Substanz P

Substanz P/-/substance P

Diese Substanz wird bei Erregung der Nozizeptoren, der Schmerzrezeptoren ausgeschüttet und erhöht ihre Empfindsamkeit. Das P steht für pain (engl. Schmerz).

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Schmerzgedächtnis

Schmerzgedächtnis/-/pain memory

Aus einem akuten Schmerz kann ein chronischer werden, wenn er längerfristig auftritt. Hier zeigt sich, wie plastisch – wie lernfähig – das Nervensystem ist: Es reichen auch schon leichte Auslöser, um eine Schmerzempfindung hervorzurufen.

Plastizität

Plastizität/-/neuroplasticity

Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Synapse

Synapse/-/synapse

Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.

Gen

Gen/-/gene

Informationseinheit auf der DNA. Den Kernbestandteil eines Gens übersetzen darauf spezialisierte Enzyme in so genannte Ribonukleinsäure (RNA). Während manche Ribonukleinsäuren selbst wichtige Funktionen in der Zelle ausführen, geben andere die Reihenfolge vor, in der die Zelle einzelne Aminosäuren zu einem bestimmten Protein zusammenbauen soll. Das Gen liefert also den Code für dieses Protein. Zusätzlich gehören zu einem Gen noch regulatorische Elemente auf der DNA, die sicherstellen, dass das Gen genau dann abgelesen wird, wenn die Zelle oder der Organismus dessen Produkt auch wirklich benötigen.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Tendenz zur Verselbständigung

Akute Schmerzen sind exakte, zeitlich und räumlich begrenzte Warnsignale des Körpers – chronische Schmerzen hingegen sind diffus, halten über mehrere Monate an und haben die Tendenz, sich zu verselbstständigen – vom eigentlichen schmerzauslösenden Reiz unabhängig zu werden. Da die Betroffenen wissen, dass ihnen bestimmte Bewegungen wehtun und sie sich vor dem Schmerz fürchten, meiden sie gewisse Tätigkeiten. Mit Schmerzmitteln alleine kommt man dann oft nicht mehr weiter, denn ist deren Wirkung verklungen, kehren die Schmerzen mit gleicher Heftigkeit zurück.

„Chronischer Schmerz ist ein gelerntes Verhalten, ein in Körper und Geist abgespeichertes Programm, das mit der richtigen Therapie überschrieben werden kann“, sagt Walter Zieglgänsberger vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie (jetzt emeritiert). Die Lösung: Ein starkes Schmerzmittel schaltet den Schmerz vorübergehend aus – und in dieser Zeit muss der Patient genau die Übungen machen, die ihm ansonsten so viel Schmerzen bereiten. Um dabei zu merken: Diese Bewegung verursacht ja gar keinen Schmerz, seine Erwartung war falsch. Solche überraschenden Erfahrungen prägen wir uns besonders gut ein; sie überschreiben dann das alte Programm, das Schmerzgedächtnis.

Schmerzgedächtnis

Schmerzgedächtnis/-/pain memory

Aus einem akuten Schmerz kann ein chronischer werden, wenn er längerfristig auftritt. Hier zeigt sich, wie plastisch – wie lernfähig – das Nervensystem ist: Es reichen auch schon leichte Auslöser, um eine Schmerzempfindung hervorzurufen.

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Quälende Erinnerungen nach traumatischen Erlebnissen

Folter, Vergewaltigung, Krieg, aber auch der Tod eines Angehörigen können eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD für engl. Post-traumatic stress disorder) auslösen. Die Traumaszene kehrt dann immer wieder urplötzlich ins Bewusstsein zurück und ruft körperliche Reaktionen hervor: Herzklopfen, Schweißausbrüche, Zittern. Betroffene leiden unter Alpträumen, Angstzuständen und umgehen alle Situationen, Menschen oder Gegenstände, die sie mit dem schrecklichen Erlebnis assoziieren.

Realität und Vorstellung verschwimmen dabei oft – PTSD-Patienten erinnern sich meist nur an Fragmente des traumatischen Ereignisses. Einer gängigen Theorie zufolge ist das implizite Gedächtnis in der Amygdala, sprich die Erinnerung an Emotionen, bei den Traumatisierten verstärkt aktiv, dort wurde das Erlebte und die damit einhergehenden Gefühle unverhältnismäßig gut abgespeichert. Das explizite Gedächtnis im Hippocampus, das Erinnerungen räumlich-zeitlich einordnet, ist hingegen gestört, ebenso Funktionen im präfrontalen Cortex, der die Amygdala kontrolliert. Bei einer Therapie gilt es, wieder Ordnung in das Gedächtnissystem des Traumatisierten zu bringen. Er muss beispielsweise das belastende Ereignis detailliert aufschreiben oder aus Sicht eines teilnahmslosen Beobachters davon berichten. Sinn und Zweck des Ganzen: Das explizite Gedächtnis anregen, damit es die Oberhand über die emotionalen Erinnerungen gewinnt.

Ein in den USA entwickeltes Behandlungskonzept – das Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) –hat sich in ersten Studien als besonders effektiv und schonend zur Therapie von Traumata erwiesen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass ein Schlafender während der REM-Phase, wenn sich seine Augen schnell hin und her bewegen, Ereignisse des Tages verarbeitet. Bei der EMDR-Therapie schildert der Patient dem Therapeuten sein Trauma und konzentriert sich dann gedanklich auf eine besonders belastende Szene, friert sie praktisch im Kopf ein. Gleichzeitig verfolgt er mit den Augen langsame Fingerbewegungen des Therapeuten. Die Augenbewegungen aktivieren dann offenbar die Selbstheilungskräfte des Gehirns. Wie genau die EMDR-Methode wirkt, ist allerdings noch unklar.

Neue Forschungen zeigen, dass der REM-Schlaf vor allem mit prozeduralen und weniger mit biographischen Gedächtnisanteilen zu tun hat. Eine inzwischen wahrscheinliche Erklärung ist, dass durch die Augenbewegungen beide Hemisphären aktiviert werden und damit eine Integration emotionaler (rechte Hemisphäre) und kognitiver Bestandteile (linke Hemisphäre) erreicht wird. Beide Gedächtnisanteile machen erfolgreiches biographisches Erinnern aus.

Belastungsstörung

Belastungsstörung/-/stress disorder

Als Belastungsstörung wird in der Psychologie die pathologische Reaktion auf dauerhaften oder kurzfristig sehr hohen Stress bezeichnet. Unterschieden werden die akute Belastungsstörung – oft als Nervenzusammenbruch bezeichnet – und die posttraumatische Belastungsstörung nach einem traumatischen Erlebnis. Sie kann noch lange Zeit nach dem eigentlichen Stressereignis schwerwiegende Folgen haben.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Amygdala

Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala

Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.

Emotionen

Emotionen/-/emotions

Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

REM-Schlaf

REM-Schlaf/-/REM sleep

„REM“ steht für „rapid eye movement“ – und rasche Augenbewegungen sind auch charakteristisch für den REM-​Schlaf. Im Laufe einer Nacht durchleben wir mehrere solcher REM-​Phasen, die von non-​REM-​Phasen unterbrochen werden. REM-​Schlaf zeichnet sich durch schnelle Augenbewegungen aus, niedrig-​amplitudige Hirnaktivität gemischter Frequenzen sowie einem reduzierten Muskeltonus. Puls und Atemfrequenz sind dagegen erhöht. Zudem träumen wir während dieser Phasen besonders bildhaft und intensiv. Menschen, die aus dem REM-​Schlaf geweckt werden, berichten häufig bildhafte, konkrete und auch emotionale Träume, während nach dem Wecken aus dem non-​REM-​Schlaf eher abstraktere und an Gedanken erinnernde Träume berichtet werden.

Hemisphäre

Hemisphäre/-/hemisphere

Großhirn und Kleinhirn bestehen aus je zwei Hälften – der rechten und der linken Hemisphäre. Im Großhirn sind sie verbunden durch drei Bahnen (Kommissuren). Die größte Kommissur ist der Balken, das Corpus callosum.

Wenn angenehme Erlebnisse abhängig machen

Doch nicht nur schreckliche sondern auch angenehme Erlebnisse haben das Potenzial, sich besonders tief ins Gedächtnis einzugraben – und so sogar zu einer Abhängigkeit zu führen. Im Grunde genommen kann alles, was in einem selbst angenehme Gefühle weckt, süchtig machen, sei es Sport, Arbeit oder chemische Substanzen wie Kokain und Heroin. Manchmal ist es auch nur das befriedigende Gefühl, einer körperlichen Sucht nachzugeben, wie beim Rauchen: Ein Nichtraucher empfindet beim Ziehen an einer Zigarette keinen Genuss, sondern nur Ekel.

Der zum Belohnungssystem gehörende Nucleus accumbens spielt für das Entstehen einer Sucht eine entscheidende Rolle: Zu ihm ziehen Fasern aus dem ventralen Tegmentum – sie sorgen dort für die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin – was dann Glücksgefühle auslöst. So belohnt die Natur eigentlich lebens- oder arterhaltende Aktivitäten wie Essen oder Sex. Aber auch Substanzen, die eher lebensverkürzend wirken wie Nikotin, Alkohol oder harte Drogen, greifen in den Dopamin-Mechanismus ein. Es wäre zu einfach zu sagen, dass diese potenziell suchterzeugenden Stoffe die Dopaminausschüttung im Nucleus accumbens anregen, denn das Belohnungssystem ist ein komplizierter Mechanismus, an dem sehr viele Gehirnareale und Neurotransmitter beteiligt sind. In jedem Fall lösen gewisse Substanzen über eine Aktivierung des Belohnungssystems Glücksgefühle aus — und das merken wir uns. So entwickelt sich ein Suchtgedächtnis. Der Stoff wird in unserer Erinnerung fest mit dem Glücksgefühl verknüpft. Konsequenz: Wir wollen und brauchen die Substanz jetzt regelmäßig und sehnen uns danach, wenn wir sie nicht bekommen (siehe: Sucht — Motivation zu schlechten Zielen).

Das Suchtgedächtnis gilt als löschungsresistent: Wer einmal Alkoholiker war, sollte nie wieder Alkohol trinken, sonst erleidet er mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Rückfall. Im Jahre 2000 sorgte daher eine Studie mit Versuchstieren für viel Wirbel. Die Forscher Jochen Wolffgramm und Andrea Heyne vom Universitätsklinikum Tübingen gaben an, das Suchtgedächtnis bei opiatabhängigen Ratten gelöscht zu haben. Sie hatten die Tiere mit Stresshormonen behandelt und ihnen danach die Droge verabreicht – allerdings nicht, wenn die Nager danach gierten, sondern zu unregelmäßigen Zeitpunkten.

Das Resultat: „Alle süchtigen Ratten haben ihre Sucht verloren – total und komplett“, so Wolffgramm. Groß wurde verkündet, dass diese Methode nun auch an heroinabhängigen Menschen getestet werde. Wolffgramm gründete sogar eine Firma und meldete Patent auf seine Therapie an. Allerdings ist über den Ausgang der Studie am Menschen nichts bekannt, und das gegründete Unternehmen ist bereits insolvent. Offensichtlich scheint das Suchtgedächtnis doch hartnäckiger zu sein, als die Forscher gehofft hatten.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Nucleus

Nucleus/Nucleus/nucleus

Nucleus, Plural Nuclei, bezeichnet zweierlei: Zum einen den Kern einer Zelle, den Zellkern. Zum zweiten eine Ansammlung von Zellkörpern im Gehirn.

Nucleus accumbens

Nucleus accumbens/Nucleus accumbens/nucleus accumbens

Der Nucleus accumbens ist ein Kern in den Basalganglien, der dopaminerge (auf Dopamin reagierende) Eingänge vom ventralen Tegmentum bekommt. Er wird mit Belohnung und Aufmerksamkeit, aber auch mit Sucht assoziiert. In der Schmerzverarbeitung ist er an motivationalen Aspekten des Schmerzes (Belohnung, Schmerzabnahme) sowie an der Wirkung von Placebos beteiligt.

Tegmentum

Tegmentum/-/tegmentum

Tegmentum (von lateinischen „tegere“ „bedecken“). Es handelt sich um den rückwärtigen, unter dem Aquädukt gelegenen Teil des Mittelhirns. Hier finden sich Kerne wie die Substantia nigra, Formatio reticularis, Hirnnervenkerne und der Nucleus ruber.

Dopamin

Dopamin/-/dopamine

Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.

Neurotransmitter

Neurotransmitter/-/neurotransmitter

Ein Neurotransmitter ist ein chemischer Botenstoff, eine Mittlersubstanz. An den Orten der Zell-​Zellkommunikation wird er vom Senderneuron ausgeschüttet und wirkt auf das Empfängerneuron erregend oder hemmend.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

zum Weiterlesen:

  • Neurowissenschaften und Traumatherapie — Grundlagen und Behandlungskonzepte, hg. von Stefan Jacobs, Göttingen 2009. (zum Text).
  • Deutscher Forschungsverbund Neuropathischer Schmerz; URL: http://​www​.neuro​.med​.tu​-muenchen​.de/​d​f​n​s​/​i​n​d​e​x​.html [Stand: 2002]; zur Webseite.

Veröffentlichung am 15.08.2011
Aktualisierung am 27.07.2018

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