Der sechste Sinn
Spezielle Rezeptoren in Muskeln und Gelenken vermitteln uns Informationen über Bewegungen, Haltung und die Position unseres Körpers im Raum: Diesem “Tiefensensibilität” genannten Sinn verdanken wir, dass wir uns überhaupt bewegen können.
Scientific support: Prof. Dr. Klaus-Peter Hoffmann, Prof. Dr. Martin Lotze
Published: 17.07.2018
Difficulty: intermediate
- Die Propriozeption oder Tiefensensibilität wird oft auch “sechster Sinn” genannt.
- Dieses Sinnessystem gewährleistet die Empfindung von Lage, Haltung und Bewegungen des Körpers im Raum.
- Propriozeptive Informationen werden von mehreren Arten von Rezeptoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken geliefert.
- Sowohl die Verarbeitung propriozeptiver Signale als auch die daraus abgeleiteten Befehle an die Muskeln laufen größtenteils unbewusst ab.
Vor über 30 Jahren war Ian Waterman ein gesunder, vitaler 19-Jähriger, der als Metzgerlehrling auf der Kanalinsel Jersey arbeitete. Dann jedoch spürte er, wie sein Körper nach und nach aus seinem Bewusstsein verschwand. Er fühlte keine Berührungen mehr, das Gewicht seiner Arme, die Position seines Fußes. Waterman war an der viralen Polyneuritis erkrankt, einer sehr seltenen Krankheit, welche das Nervengewebe schädigen kann. Bei Ian Waterman zerstörte sie die Fähigkeit zur Propriozeption: Bis auf Schmerz- und Temperaturgefühl verlor er alle Körperempfindungen.
Die Folge: Obwohl seine Muskeln noch einwandfrei funktionierten, konnte er weder aufstehen noch sich aufsetzen. Andere Patienten mit ähnlichen Symptomen waren lebenslang ans Bett gefesselt. Ian Waterman aber gab nicht auf – und wurde so zu einem der ungewöhnlichsten Patienten der Welt.
Über Jahre und mit viel Energie und Ausdauer übte er, seine Tiefensensibilität durch andere Sinne zu ersetzen, vor allem durch seine Augen. Nach Monaten konnte er sich im Bett aufsetzen, nach mehr als einem Jahr schaffte er es, sich hinzustellen. Heute kann er sogar gehen: Dabei beugt er sich vornüber und beobachtet genau die Bewegung und Position seiner Beine, um sie im Zweifelsfall willentlich zu korrigieren. Ist Waterman aber eine Sekunde abgelenkt und richtet seinen Blick nicht auf seine Beine, fällt er sofort um.
Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken: Fünf Sinne, so sagt man gemeinhin, eröffnen uns den Zugang zur Welt. Doch es gibt einen sechsten, nicht minder bedeutsamen Sinn, der oft vernachlässigt wird: die Tiefensensibilität. Abgeleitet vom lateinischen “proprius” für “eigen” auch als Propriozeption bezeichnet, vermittelt sie uns Eindrücke über unseren Körper im Raum. Dass wir stehen oder sitzen, wie unsere Glieder angewinkelt sind, welche Haltung wir haben oder in welcher Position unser Fuß gerade steht.
Die Informationen über Haltung, Bewegung oder Lage des eigenen Körpers erhält das Gehirn über so genannte Propriorezeptoren. Diese Sensoren sitzen in den Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenken und reagieren in unterschiedlicher Weise auf Druck oder Verformung. Aus den Signalen, die Propriorezeptoren an das Gehirn senden, leitet dieses Entscheidungen über mögliche beziehungsweise eventuell notwendige Positionsveränderungen des Körpers ab, sendet entsprechende Befehle an die Muskeln und schließt damit die Rückkopplungsschleife.
Unbewusst, aber keineswegs unbedeutend
So korrigieren wir tagtäglich tausende Male unsere Kopfposition, verändern die Anspannung der Rückenmuskeln, belasten ein Bein kurzzeitig intensiver als das andere. Im Alltag merken wir davon meist nichts, denn das Gros dieser Bewegungskommandos wird unbewusst ausgeführt. Müssten wir diese unzähligen winzigen Positionsänderungen bewusst erleben, kämen wir vermutlich kaum dazu, an etwas anderes zu denken. Die Flut der propriozeptiven Informationen ist schlicht zu gewaltig – und wird darum zu großen Teilen ins Unbewusste verlegt.
Was aber nicht heißt, dass die Tiefensensibilität nur eine geringe Bedeutung besitzt. Im Gegenteil: Ohne sie fehlt uns jegliche Empfindung für Lage und Haltung des eigenen Körpers – und damit auch die Fähigkeit, uns im Raum zu bewegen. Wie beeinträchtigt der Mensch ist, wenn ihm der Sinn für Propriozeption abhandenkommt, zeigt der spektakuläre Fall des Ian Waterman, der sich heute nur noch dank großer Willenskraft und unter Einbeziehung aller anderen Sinne bewegen kann.
Doch auch die meisten gesunden Menschen haben schon einmal eine Beeinträchtigung der Tiefenwahrnehmung erlebt. Wer einmal etwas zu viel getrunken hat, weiß, dass unter Alkoholeinfluss bisweilen selbst eigentlich simple motorische Aufgaben wie etwa das Gehen auf einer Linie oder das Berühren der Nase mit einem Finger äußerst schwierig werden. Denn Alkohol– oder Drogenkonsum stören die reibungslose Verarbeitung propriozeptiver Informationen. Konsequenz: Wir torkeln beim Gehen, geraten schon im Stehen aus dem Gleichgewicht oder nehmen den Abstand zwischen Füßen und Boden falsch wahr.
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Sensoren mit verschiedenen Zuständigkeitsbereichen
Für die Lieferung von Informationen über Haltung, Lage und Bewegung unseres Körpers sind mehrere Arten von Rezeptoren zuständig. Neben Sensoren, welche die Gelenkstellung „messen“, sind dies vor allem die Muskelspindeln und die Golgi-Sehnenorgane. Die Muskelspindeln befinden sich in unseren Skelettmuskeln. Sie bestehen aus spezialisierten Skelettmuskelfasern, die in ihrer Form an eine Spindel erinnern. Sie sind von einer Nervenfaser umgeben, die Längenveränderungen durch die Dehnung der Muskelfasern registrieren.
Auch die Golgi-Sehnenorgane sitzen in den Skelettmuskeln, und zwar am Übergang vom Muskel zur Sehne. Im Unterschied zu den Muskelspindeln sind sie nicht parallel zu den Muskelfasern angeordnet, sondern hintereinander. So können sie die Muskelspannung überwachen. Zusätzliche Informationen liefern mechanosensitive Fasern im Bindegewebe von Gelenken, die auf Veränderungen des Winkels, der Richtung und der Geschwindigkeit reagieren.
Bewusste und unbewusste Bahnen
Die Axone der Propriorezeptoren ziehen ins Rückenmark, wo manche Informationen ausgewertet und direkt mit Reflexen beantwortet werden, bevor sie Interneurone an das Gehirn weiterleiten. Ein Beispiel für einen solchen propriozeptiven Reflex ist der bekannte Patellarsehnenreflex, bei dem nach einem Schlag unter die Kniescheibe das Schienbein vorschnellt.
Die Informationen der Propriorezeptoren laufen über zwei unterschiedliche Bahnen in das Gehirn – je nachdem, ob die Reize bewusst oder unbewusst verarbeitet werden. Die bewusste Tiefensensibilität nutzt die somatosensorische Bahn. Deren Signale verlaufen über die Hinterstrangbahnen zum Thalamus, wo sie umgeschaltet werden und im Scheitellappen des Cortex enden. So kann man beispielsweise spüren, dass man auf einem Stuhl sitzt. Die unbewusste Tiefenwahrnehmung hingegen läuft über die Kleinhirnseitenstrangbahn, den Tractus spinocerebellares, und endet im Kleinhirn, das für die Bewegungskontrolle zuständig ist. Dieser Pfad ermöglicht es zum Beispiel, Treppen zu steigen, ohne nachzudenken. Manche Krankheiten, aber auch Drogen und Alkohol stören diesen Mechanismus – mit den bekannten Ausfallerscheinungen.
Die Propriozeption ist übrigens rund um die Uhr aktiv. Selbst wenn wir schlafen und entspannt sind, orten die Sensoren die Lage unseres Körpers und unbewusste Bewegungen. So hilft uns die Tiefensensibilität dabei, uns in allen Lebenslagen bestens zu positionieren.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
