Ein Labyrinth fürs Gleichgewicht

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Author: Anna Corves

Ohne ihn würden wir immerzu Karussell fahren: Der Gleichgewichtssinn steuert den Körper wie ein dreidimensionales Navigationsgerät durch den Raum. Seine Zentrale sitzt tief in unserem Ohr und signalisiert Muskeln und Gelenken: Haltung bewahren!

Scientific support: Prof. Dr. Hans Straka

Published: 09.12.2016

Difficulty: serious

Das Wichtigste in Kürze
  • Das vestibuläre System ist wichtig für die Wahrnehmung von Position und Bewegung des eigenen Körpers im Raum.
  • Drei Bogengänge bilden das Drehsinnesorgan, zwei Vorhofsäckchen sind für lineare Geschwindigkeitsänderungen (Beschleunigung) zuständig.
  • Das vestibuläre System kooperiert mit dem visuellen System und den Sensoren aus Muskeln, Sehnen und Gelenken: Sie sind zugleich Quelle als auch Adressat der Informationen über die Position des Körpers im Raum.
  • Besonders schnell ist die Verschaltung mit den Augenmuskeln: Der vestibulo-okuläre Reflex ermöglicht ein stabiles Bild trotz Körperbewegung.
  • Störungen des vestibulären Systems führen zu Symptomen ähnlich der “Seekrankheit”: vor allem zu Schwindel und Übelkeit.

Bogengänge

Bogengänge/Ductus semicircularis/semicircular canals

Die drei Bogengänge pro Ohr sind untereinander verbundene, flüssigkeitsgefüllte Schläuche, die nahezu rechtwinklig zueinander stehen und zum Gleichgewichtsorgan im Innenohr (Vestibularapparat) gehören. Sie dienen der Registrierung von Winkelbeschleunigungen, d.h. Drehbewegungen des Kopfes. 

Karussellfahrt im Kopf

Kinder drehen sich gerne so schnell und lange wie möglich um ihre eigene Achse. Bremsen sie dann ab, wird ihnen oft schwindlig. Das liegt daran, dass die Endolymphe im Innenohr – eigentlich eine träge Flüssigkeit – in den Bogengängen bei langanhaltender Rotation irgendwann doch in Schwung kommt und mitkreist. Endet die Rotation abrupt, bewegt sich die Endolymphe noch kurze Zeit weiter. Das erweckt den Eindruck, als ob sich die Umwelt beziehungsweise man selbst auf einmal in die entgegengesetzte Richtung dreht – man wird “seekrank”.

Die Riesen-Gondel schwingt in ausladenden Bewegungen vor und zurück. Sie beschleunigt ruckartig, bremst wieder, bäumt sich plötzlich zu einem Looping auf und bleibt schließlich am höchsten Punkt kopfüber stehen – für scheinbar endlose Sekunden. Die Insassen kreischen unwillkürlich. Blut schießt in die Köpfe und die Welt ringsum beginnt sich zu drehen.

Wer schon einmal in der Wilden Maus, im Flying Circus oder in einem vergleichbaren Fahrgeschäft gesessen hat, kennt das: Angst gepaart mit Glücksgefühl, Herzpochen mischt sich mit Schwindel und Übelkeit. Kommt die Maschine endlich wieder zum Stehen, wankt man aus der Gondel wie ein Betrunkener. Die Welt dreht sich noch ein bisschen weiter, Kopf und Körper müssen erstmal wieder zueinander finden. Solche Abenteuer fordern dem Gleichgewichtssinn Höchstleistungen ab. Dass es ihn gibt, wird uns meist erst bewusst, wenn wir ihn derart auf die Probe stellen. Im Normalfall verrichtet er seine Arbeit völlig unauffällig und höchst zuverlässig.

Sensibel in alle Richtungen

Die Zentrale des Gleichgewichtssinns, das so genannte vestibuläre System, ist als Teil des Ohrs und damit auf jeder Seite des Kopfes einmal vorhanden. Es befindet sich im Innenohr, einem komplex gestalteten Hohlraum. Der Vestibularapparat selbst hat fünf Bestandteile: drei Bogengänge und zwei Vorhofsäckchen, die so genannten Maculaorgane. Während die Maculaorgane lineare Beschleunigungen detektieren, etwa beim Auto- oder Aufzugfahren, sind die Bogengänge für Drehbewegungen wie Kopfschütteln oder Nicken zuständig.

Bogengänge

Bogengänge/Ductus semicircularis/semicircular canals

Die drei Bogengänge pro Ohr sind untereinander verbundene, flüssigkeitsgefüllte Schläuche, die nahezu rechtwinklig zueinander stehen und zum Gleichgewichtsorgan im Innenohr (Vestibularapparat) gehören. Sie dienen der Registrierung von Winkelbeschleunigungen, d.h. Drehbewegungen des Kopfes. 

Wie drei Wasserwaagen im Raum

Bei den drei Bogengängen handelt es sich um Kanäle, umgeben von Membranen. In ihrem Inneren befindet sich eine Flüssigkeit, die Endolymphe. Die Gänge stehen im 90-Grad-Winkel zueinander: Einer horizontal im Kopf, einer verläuft senkrecht dazu schräg nach vorne und der dritte schräg nach hinten.

Jeder Bogengang besitzt eine Auswölbung, die so genannte Ampulle. In ihr sitzen, in ein Polster eingebettet, Haarzellen: die Sinneszellen des Gleichgewichtsorgans. Jede einzelne hat zahlreiche Fortsätze, die aussehen wie feine Flimmerhärchen. Diese so genannten Cilien sind jeweils unterschiedlich lang und ragen in eine gallertige Membran, die Cupula, die mit der Wand des Bogengangs verwachsen ist. Die Haarzellen einer Ampulle sind jeweils in dieselbe Richtung angeordnet. Das hat zur Folge, dass sie gemeinsam erregt oder gehemmt werden.

Dreht der Mensch nun den Kopf nach links, bewegt sich die Wand des Bogengangs ebenfalls nach links. Die Endolymphe darin ist jedoch träge und strömt nicht sofort mit. “Das ist wie bei einer Tasse Kaffee”, vergleicht Stefan Glasauer vom Zentrum für Somatosensorische Forschung an der Neurologischen Abteilung der Universität München: Stellt man diese auf eine Drehscheibe, dreht sich zunächst zwar die Tasse mit, nicht aber der Kaffee selbst. Das Resultat ist eine Relativbewegung des Kaffees gegenüber der Tasse. Im Fall der Bogengänge übt diese Relativbewegung Druck auf die Cupula aus und verbiegt die Cilien der Haarzellen. Dreht man den Kopf beispielsweise nach links, krümmen sich die Cilien im linken horizontalen Bogengang nach rechts und werden so erregt. In der Gegenrichtung würden sie gehemmt.

Bogengänge

Bogengänge/Ductus semicircularis/semicircular canals

Die drei Bogengänge pro Ohr sind untereinander verbundene, flüssigkeitsgefüllte Schläuche, die nahezu rechtwinklig zueinander stehen und zum Gleichgewichtsorgan im Innenohr (Vestibularapparat) gehören. Sie dienen der Registrierung von Winkelbeschleunigungen, d.h. Drehbewegungen des Kopfes. 

Die Maculaorgane – die Hörsteinchen weisen das Lot

Bei den Maculaorganen funktioniert die Bewegungserkennung etwas anders. Das kleine Vorhofsäckchen, der Sacculus, liegt senkrecht im Schädel und spricht auf entsprechende Beschleunigungen an, also wenn man beispielsweise mit einen Fahrstuhl nach oben fährt. Das große Vorhofsäckchen, der Utriculus, reagiert dagegen auf horizontale Beschleunigungskräfte, also Vorwärts- und Rückwärts- oder auch Seitwärtsbewegungen. In den Säckchen befinden sich ebenfalls Haarsinneszellen, deren Cilien in eine gallertartige Masse hineinragen: Die Otolithenmembran.

Diese enthält kleinste Kalziumkarbonatkristalle, die Otolithen, auch Statolithen oder umgangssprachlich Hörsteinchen genannt. Ist der Mensch nun einer Beschleunigung ausgesetzt, wenn etwa der Busfahrer ordentlich Gas gibt, kommt, dank Schwerkraft und dem Gewicht der Otolithen, die gallertartige Masse in Bewegung: Das verbiegt die feinen Cilien und erregt so die Haarsinneszellen des Utriculus.

Teamwork mit Augen und Tiefensensibilität

Was nach der Erregung der Sinneszellen passiert, läuft bei Maculaorganen und Bogengängen ähnlich ab: Der mechanische Reiz, also das Abbiegen der Cilien, wird in ein elektrisches Signal übersetzt. An den Spitzen der Flimmerhärchen, die in den Endolymphraum ragen, sitzen Ionenkanäle. Bei unbewegtem Kopf ist ein kleiner Teil von ihnen geöffnet, so dass das Ein- und Ausströmen von positiv geladenen Kaliumionen aus der Endolymphe in die Haarzellen ausgeglichen ist. Je nachdem, in welche Richtung nun die Cilien abgebogen werden, öffnen sich mehr Ionenkanäle und es fließen vermehrt Kaliumionen in die Zelle hinein: Es kommt zur Depolarisation und die Zelle wird erregt. Werden die Ionenkanäle dagegen geschlossen, fließen weniger Kaliumionen hinein und es kommt zur Hyperpolarisation, die eine hemmende Wirkung hat. Das mechanische Signal wird so in ein neurochemisches übersetzt.

Im Falle einer Erregung wird von den Haarzellen der Neurotransmitter Glutamat vermehrt ausgeschüttet. So gelangt die Information über eine bestimmte Körperbewegung im Raum zur nachgeschalteten Nervenzelle und weiter ins Gehirn. Die Nervenfasern aus den drei Bogengängen und den beiden Maculaorganen bündeln sich zum so genannten Gleichgewichtsnerv. Er vereinigt sich noch im Innenohr mit dem Hörnerv zum VIII. Hirnnerv (nervus vestibulo-cochlearis). Die Fasern aus den verstibulären Organen ziehen weiter in den ältesten Teil des Gehirns, den Hirnstamm und kontaktieren dort Nervenzellen in den Vestibulariskernen sowie im Kleinhirn. Hier kommen alle Informationen zusammen, die für das Gleichgewicht und die Wahrnehmung der Eigenbewegung notwendig sind: die der Maculaorgane und Bogengänge beider Hirnhälften. Hinzu gesellen sich Signale der Augen, die großflächige Bewegungen in der Umwelt signalisieren, sowie jene des propriozeptiven sensorischen Systems, das heißt der Rezeptoren aus Muskeln, Sehnen und Gelenken. Die Informationen der verschiedenen Systeme werden miteinander verknüpft und an die Augen- sowie die Arm- und Beinmuskulatur weitergeleitet.

Depolarisation

Depolarisation/-/depolarisation

Die Abnahme des Membranpotenzials (Richtung 0 mV) aus dem Ruhepotenzial, welches zwischen dem Inneren der Zelle und dem Außenraum gemessen wird und eine Differenz von –70 mV aufweist.

Bogengänge

Bogengänge/Ductus semicircularis/semicircular canals

Die drei Bogengänge pro Ohr sind untereinander verbundene, flüssigkeitsgefüllte Schläuche, die nahezu rechtwinklig zueinander stehen und zum Gleichgewichtsorgan im Innenohr (Vestibularapparat) gehören. Sie dienen der Registrierung von Winkelbeschleunigungen, d.h. Drehbewegungen des Kopfes. 

In sieben Millisekunden zum scharfen Bild

Am schnellsten ist die Verbindung zu den Hirnnervenkernen, die die Augenmuskeln kontrollieren. Der so genannte “vestibulo-okuläre Reflex” benötigt nur etwa sieben Millisekunden. Er ist einer der schnellsten Reflexe im Zentralen Nervensystem und ermöglicht es uns, kontinuierlich ein stabiles Bild der Umwelt zu sehen, während wir den Kopf bewegen. Etwa beim Joggen: “Eigentlich müssten Jogger ihre Umwelt wie ein verwackeltes Foto wahrnehmen”, erklärt Sensomotorik-Forscher Glasauer. “Dank des vestibulo-okulären Reflexes gleicht das Auge die Bewegung aber aus, in dem es sich, in der gleichen Geschwindigkeit, in die Gegenrichtung bewegt.” Sinkt der Kopf nach unten, richtet sich das Auge also nach oben.

Auch die Motorneurone im Rückenmark, die letztlich die Muskeln der Beine kontrollieren, werden über die Veränderung der Position informiert. Sie steuern dagegen, wenn man zum Beispiel stolpert, auf einem schwankenden Schiff steht oder der U-Bahnfahrer plötzlich abbremst und stabilisieren so unsere aufrechte Position. Aufgrund der Vielzahl der Beinmuskeln, sind die vestibulo-spinalen Reflexe jedoch viel ungenauer als die vestibulo-okulären. Deshalb kommen wir manchmal ins Straucheln.

Letztlich ermöglicht das Zusammenspiel der vestibulären, visuellen und propriozeptiven sensorischen Systeme, dass wir unsere Körperbewegung im Raum wahrnehmen, uns visuell orientieren und selbst bei komplexen Bewegungen wie beim Turnen das Gleichgewicht halten können. Das vestibuläre System hat daran einen entscheidenden Anteil. Egal in welche Richtung sich der Kopf bewegt: Die Haarzellen sind so richtungsempfindlich, dass sie alle Bewegungen spezifisch codieren und in neuronale Signale umwandeln. Daraus ergibt sich ein Erregungsmuster, das das Zentrale Nervensystem eindeutig interpretieren kann. Es weiß so ganz genau, in welcher Stellung sich der Kopf im Raum befindet und in welche Richtung er sich in jedem Moment bewegt. Damit ist dieses System auch eine unabdingbare Voraussetzung für die Funktion unseres Orientierungssinnes. Zusammen mit den Ortszellen und Platzzellen, deren Entdeckung 2014 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde Gesucht und gefunden: Orientierungszellen, bilden das Gleichgewichtsorgan mit seinen komplexen Verschaltungen quasi das GPS des Gehirns.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Störungsanfällig, aber rehafähig

Dabei laufen all diese Prozesse im Alltag weitgehend unbewusst ab – es sei denn, die Gleichgewichtswahrnehmung ist gestört. Zum Beispiel stimmen manchmal die Informationen der unterschiedlichen Sinnesquellen nicht überein. Zur Täuschung kommt es etwa am Bahnhof, wenn man in einem stehenden Zug sitzt und der Zug am Nachbargleis zu rollen beginnt. Dann entsteht dieser kurze Moment der Unsicherheit, ob der eigene oder der andere Zug losfährt. Hier widersprechen sich vor allem das visuelle und das vestibuläre System: Die Augen melden Bewegung, das vestibuläre System hingegen Stillstand.

Bei manchen Menschen ist der vestibuläre Apparat aber auch selbst gestört – etwa bei Durchblutungsstörungen oder Entzündungen im Innenohr. Betroffene klagen über Drehschwindel, wie nach einer Karussellfahrt und können sich nicht mehr aufrecht halten. “Solche Patienten berichten auch, dass sie sich wie außerhalb ihres Körpers fühlen”, sagt Stefan Glasauer. Das Bewusstsein über die Position und die Bewegung des eigenen Körpers im Raum leidet.

Zum Glück ist das vestibuläre System aber höchst anpassungsfähig: Wird etwa bei einem Unfall ein Innenohr geschädigt und gehen dort Haarzellen verloren, funktioniert der Gleichgewichtssinn zunächst schlecht. “Bei solch dauerhaften Schäden gewöhnt sich das Gehirn an das Defizit, kann es durch die verbliebenen Informationen so ausgleichen, dass sich das Gleichgewicht des Patienten wieder dauerhaft stabilisiert”, erklärt Glasauer. Nicht mehr so gut funktioniert der Ausgleich solcher vestibulären Schäden allerdings bei alten Menschen. Ihr Gleichgewichtssinn und die vestibulo-spinalen Reflexe, die die Körperhaltung stabilisieren, sind nicht mehr so schnell. Das ist mit ein Grund dafür, dass sich mit zunehmendem Alter Stürze häufen.

zum Weiterlesen:

Cullen KE. The vestibular system: multimodal integration and encoding of self-motion for motor control. Trends Neurosci. 2012 Mar;35(3):185-96. (zum Text)

Veröffentlichung: am 16.08.2012
Aktualisierung: am 09.12.2016

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