Wie visuelle Informationen von der Netzhaut ins Mittelhirn gelangen

© Charité | Jens Kremkow & Fotostudio Farbtonwerk | Bernhardt Link
Von der Netzhaut zum Mittelhirn: elektrische Signale der axonalen Verzweigungen einer retinalen Nervenzelle, die zeitgleich an den winzigen Elektroden einer Neuropixels-Sonde im Mittelhirn gemessen wurden (hier dargestellt als Linien).

Neue Technologie ‚Neuropixels‘ führt zum Nachweis mosaikartiger Verbindungen.

Source: Charité - Universitätsmedizin Berlin, Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz

Published: 12.09.2022

Neurowissenschaftler:innen der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz (in Gründung) zeigen erstmals, wie sensorische Nervenzellen in der Netzhaut präzise mit Nervenzellen der Colliculi superiores, einer Struktur im Mittelhirn, verbunden sind. Neuropixels-Sonden sind eine noch junge Elektrodengeneration mit besonders vielen Aufzeichnungspunkten für die elektrische Aktivität von Nervenzellen. Ihr Einsatz hat die neuen Einsichten in neuronale Schaltkreise möglich gemacht und führt zum Nachweis mosaikartiger Verbindungen. Im Journal Nature Communications* beschreiben die Forschenden ein Grundprinzip im Sehsystem von Säugetieren und Vögeln.

Zwei Hirnstrukturen sind maßgeblich für die Verarbeitung von visuellen Reizen verantwortlich: die Sehrinde, der visuelle Cortex, im Großhirn und die Colliculi superiores, eine Region im Mittelhirn. Der Vorgang des Sehens und die Verarbeitung dieser Informationen sind äußerst komplex. Vereinfacht betrachtet, ist der visuelle Cortex für die generelle visuelle Wahrnehmung zuständig, die Strukturen im evolutionär älteren Mittelhirn eher für reflexartiges visuelles Verhalten. Die Mechanismen und zugrunde liegenden Prinzipien der visuellen Verarbeitung in der Sehrinde sind gut bekannt. Auch Arbeiten eines Forschungsteams um Dr. Jens Kremkow konnten dazu beitragen. Diese mündeten 2017 in der Gründung einer Emmy Noether-Nachwuchsgruppe am Neurowissenschaftlichen Forschungszentrum (NWFZ) der Charité, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Ein wesentliches Ziel der Neurowissenschaftler:innen: die neuronalen Verbindungen, die Verschaltungen, der Nervenzellen des Sehsystems noch besser zu verstehen. So sind beispielsweise viele Fragen dazu offen, wie im Einzelnen visuelle Informationen im Mittelhirn, in den Colliculi superiores, verarbeitet werden.

Retinale Ganglienzellen, sensorische Nervenzellen in der Retina, der Netzhaut des Auges, reagieren auf optische Reize aus der Umwelt und senden die Informationen zum Gehirn. Auch das Mittelhirn erhält hierbei visuelle Informationen durch direkte Signaleingänge von retinalen Nervenzellen. „Wie dabei verschiedene Nervenzellen der Retina und Nervenzellen im Mittelhirn funktional verbunden sind, lag weitgehend im Dunklen. Ebenso wenig wusste man darüber, wie die Neurone, die Nervenzellen, in den Colliculi superiores die synaptischen Eingänge verarbeiten“, sagt Studienleiter Dr. Kremkow. „Um die Mechanismen der visuellen Verarbeitung im Mittelhirn zu verstehen, sind diese Informationen essenziell.“ Bisher war es schlichtweg nicht möglich, die Aktivität von synaptisch verbundenen Nervenzellen der Retina und Neuronen des Mittelhirns im lebenden Organismus zu messen. Für die aktuellen Untersuchungen hat das Forschungsteam daher eine Methode entwickelt, die auf Messungen neuartiger, hochdichter Elektroden, sogenannter Neuropixels-Sonden, basiert. Diese Elektroden, genauer Elektrodenarrays, sind winzig klein und versammeln rund eintausend Aufzeichnungsstellen auf einem dünnen Schaft. Sie erlauben es, die elektrische Aktivität zwischen Neuronen im Gehirn gleichzeitig mit 384 Elektroden zu messen und verändern das neurowissenschaftliche Forschungsfeld derzeit deutlich.

Die Wissenschaftler:innen an der Charité und am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz haben die neue Technologie nun eingesetzt, um die elektrische Aktivität in den jeweiligen Mittelhirnstrukturen von Maus (Colliculi superiores) und Vogel (Optic tectum) zu ermitteln. Diese Hirnstrukturen haben einen gemeinsamen evolutionären Ursprung und spielen in beiden Arten eine wichtige Rolle bei der visuellen Verarbeitung von eingehenden Signalen aus der Retina. Während der Untersuchungen machen die Forschenden eine überraschende Entdeckung: „Für gewöhnlich werden bei diesen elektrophysiologischen Ableitungen elektrische Signale jener Aktionspotenziale gemessen, die am Soma, dem Zellkörper von Nervenzellen entstehen“, erklärt Dr. Kremkow. „Bei unseren Ableitungen sind uns allerdings Signale aufgefallen, die anders als die bekannten Aktionspotenziale aussahen. Wir sind der Ursache auf den Grund gegangen. Wie sich dabei herausgestellt hat, gehen diese im Mittelhirn eingehenden Signale auf Aktionspotenziale in den sogenannten axonalen Verzweigungen der retinalen Ganglienzellen zurück. Demnach ist es möglich, die elektrischen Signale von Axonen, den signalgebenden Fortsätzen der Nervenzellen, mittels der neuartigen Elektrodenarrays abzuleiten. Das ist eine völlig neue Erkenntnis.“ Dem Team um Dr. Kremkow ist es auf diese Weise erstmalig gelungen, die Aktivität von Nervenzellen in der Retina und von Signalempfängern im Mittelhirn zeitgleich zu messen.

Die funktionelle Verbindung der Nervenbahnen zwischen Auge und Mittelhirn war bislang eine Unbekannte. Jetzt konnten die Forschenden einzelzellgenau aufzeigen, dass die räumliche Anordnung der Eingänge von Signalen der retinalen Ganglienzellen im Mittelhirn exakt die Anordnung in der Retina widerspiegelt. „Die räumliche Anordnung der Retina wird quasi eins zu eins in den Strukturen des Mittelhirns übernommen“, so der Hirnforscher Dr. Kremkow. „Neu war für uns ebenfalls, dass die Neurone im Mittelhirn einen sehr starken und spezifischen synaptischen Eingang von den retinalen Ganglienzellen erhalten, allerdings nur von ein paar wenigen dieser sensorischen Nervenzellen. Diese Verschaltung ermöglicht eine sehr strukturierte und funktionale Verbindung zwischen der Netzhaut des Auges und den entsprechenden Regionen des Mittelhirns.“ Eine Erkenntnis, die unter anderem zu einem besseren Verständnis des sogenannten Blindsehens, auch Blindsight, beiträgt. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, das beim Ausfall der primären Sehrinde, beispielsweise durch eine Hirnverletzung oder Tumoren, beobachtet wird. Während in diesem Fall eine bewusste visuelle Wahrnehmung nicht mehr möglich ist, verbleibt eine Restfunktion der visuellen Informationsverarbeitung, eine intuitive Wahrnehmung von Reizen, Umrissen, Bewegungen oder auch Farben, die offenbar auf das Mittelhirn zurückgeht.

Um zu prüfen, ob die Prinzipien, die zunächst am Mausmodell beobachtet wurden, auch für andere Wirbeltiere gelten – und somit von genereller Natur sein könnten, hat die Gruppe um Dr. Kremkow mit einem Team am Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz zusammengearbeitet. Dr. Daniela Vallentin leitet dort eine Lise-Meitner-Forschungsgruppe und ist maßgeblich mit neuronalen Schaltkreisen befasst, die für die Koordination präziser motorischer Bewegungen bei Vögeln verantwortlich sind. „Wir konnten mit den gleichen Messungen zeigen, dass die Nervenbahnen, die Netzhaut und Mittelhirn verbinden, bei Zebrafinken nach einem ähnlichen Prinzip aufgebaut sind“, sagt Dr. Vallentin. „Dies ist insofern überraschend, da die optische Auflösung bei Vögeln deutlich höher ist und in der Evolution zwischen Vögeln und Säugetieren viel Zeit vergangen ist.“ Die Anordnung und funktionale Verschaltung der retinalen Ganglienzellen ähneln sich den Beobachtungen zufolge im Optischen Tectum und in den Colliculi superiores. Die Forschenden schließen daraus, dass die gefundenen Prinzipien essenziel für die visuelle Verarbeitung im Mittelhirn von Wirbeltieren sind. Wahrscheinlich handelt es sich sogar um universelle Prinzipien im Aufbau des Wirbeltiergehirns, also auch des menschlichen Gehirns.

„Nachdem wir die funktionale, mosaikartige Verschaltung zwischen den retinalen Ganglienzellen und den Neuronen der Colliculi superiores verstanden haben, werden wir nun weiter herausarbeiten, wie die sensorischen Signale im Sehsystem, speziell den Regionen im Mittelhirn, weiterverarbeitet werden und wie sie zu reflexartigem visuellen Verhalten beitragen“, blickt Dr. Kremkow in die Zukunft. Auch möchte das Team herausfinden, ob sich die neue Methode in anderen Gehirnstrukturen anwenden lässt und die Aktivität der Axone andernorts ebenfalls messbar ist. Sollte das der Fall sein, könnten sich zahlreiche neue Möglichkeiten eröffnen, um den Mechanismen des Gehirns auf die Spur zu kommen.

Intelligenz

Intelligenz/-/intelligence

Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-​Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-​Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-​linguistisch, logisch-​mathematisch, musikalisch-​rhythmisch, bildlich-​räumlich, körperlich-​kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Netzhaut

Netzhaut/Retina/retina

Die Netzhaut oder Retina ist die innere mit Pigmentepithel besetzte Augenhaut. Die Retina zeichnet sich durch eine inverse (umgekehrte) Anordnung aus: Licht muss erst mehrere Schichten durchdringen, bevor es auf die Fotorezeptoren (Zapfen und Stäbchen) trifft. Die Signale der Fotorezeptoren werden über den Sehnerv in verarbeitende Areale des Gehirns weitergeleitet. Grund für die inverse Anordnung ist die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der Netzhaut, es handelt sich um eine Ausstülpung des Gehirns.
Die Netzhaut ist ca 0,2 bis 0,5 mm dick.

Großhirn

Großhirn/Telencephalon/cerebrum

Das Großhirn umfasst die Großhirnrinde, (graue Substanz), die Nervenfasern (weiße Substanz) und die Basalganglien. Es ist der größte Teil des Gehirns. Die Rinde kann in vier Rindenfelder unterteilt werden: Temporallappen, Frontallappen, Okzipitallappen und Parietallappen.
Seine Aufgaben sind die Koordination von Wahrnehmung, Motivation, Lernen und Denken.

Mesencephalon

Mesencephalon/-/mecencephalon, midbrain

Das Mittelhirn ist der oberste Abschnitt des Hirnstammes. Seine Regionen liegen um das Aquädukt, einen mit Hirnflüssigkeit gefüllten Kanal. Prominente Strukturen sind das Tektum (Mittelhirndach) und das Tegmentum (Mittelhirnhaube).

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Wahrnehmung

Wahrnehmung/Perceptio/perception

Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Aktionspotenzial

Aktionspotenzial/-/action potential

In erregbaren Zellen (z. B. Neuronen oder Muskelzellen) findet man sehr schnelle Änderungen des elektrischen Potenzials über der Zellmembran. Dieses Ereignis ist die Grundlage für die Informationsleitung entlang des Axons der Nervenzelle. Das Aktionspotenzial setzt sich entlang der Zellmembran fort und entsteht nach dem Alles-​oder-​Nichts-​Prinzip nur dann, wenn die Zelle ausreichend stark erregt wurde.

Soma

Soma/-/cell body

Der Zellkörper, auch Soma genannt, ist das Stoffwechselzentrum der Zelle. Er trägt neben den Zellorganellen – zum Beispiel die Mitochondrien – auch den Zellkern mit den Erbanlagen. Vom Zellkörper gehen die Dendriten und das Axon (langer faserartiger Fortsatz von Nervenzellen) ab.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Axon

Axon/-/axon

Das Axon ist der Fortsatz der Nervenzelle, der für die Weiterleitung eines Nervenimpulses zur nächsten Zelle zuständig ist. Ein Axon kann sich vielfach verzweigen, und so eine Vielzahl nachgeschalteter Nervenzellen erreichen. Seine Länge kann mehr als einen Meter betragen. Das Axon endet in einer oder mehreren Synapse(n).

Originalpublikation

*Sibille J et al. High-density electrode recordings reveal strong and specific connections between retinal ganglion cells and midbrain neurons. Nat Comm 2022 Sep 5. doi: 10.1038/s41467-022-32775-2

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