Warum hungrige Mäuse Sex dem Fressen vorziehen

© Anne Petzold Universität zu Köln
Nervenzellen im Hypothalamus (grün gefärbt) steuern nicht nur das Fressverhalten, sondern auch die soziale Interaktion. Die Linien zeigen die Aktivität einzelner Nervenzellen in dieser Hirnregion.

Stimulierung durch das Hormon Leptin führt in Mäusen dazu, dass Hunger kurzzeitig unterdrückt wird, wenn sich die Möglichkeit zu sozialer Interaktion mit dem anderen Geschlecht und zur Fortpflanzung eröffnen. Ist der Hunger jedoch zu stark, wird die Nahrungsaufnahme vorgezogen / Veröffentlichung in „Cell Metabolism“

Source: Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung

Published: 23.02.2023

Fressen oder sich paaren? Da beides für Tier und Mensch überlebenswichtig ist, kann die Wahl zuweilen schwerfallen. Die Antwort zeigt, dass beides durchaus zusammenhängt: Mäßig hungrige Mäuse entscheiden sich im Zweifelsfall für die Paarung, während für sehr hungrige Mäuse das Futter verlockender ist. Reguliert wird das Hungergefühl, und damit die Entscheidung, durch ein spezielles Hormon. Forschende vom Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung und dem Exzellenscluster für Alternsforschung CECAD der Universität zu Köln haben nun gezeigt, dass Mäuse die Interaktion mit Mitgliedern des anderen Geschlechts dem Essen und Trinken vorziehen, wenn ihre Gehirne mit Leptin, einem appetithemmenden Hormon, stimuliert werden. Die Ergebnisse ihrer Studie sind in der Fachzeitschrift Cell Metabolism erschienen.

„Wir können immer nur einem Verhalten nachgehen, also muss unser Gehirn irgendwie berechnen, welches Verhalten sich am meisten lohnt oder was wir am dringendsten brauchen“, sagt Professorin Dr. Tatiana Korotkova, Neurowissenschaftlerin an der Universität zu Köln, Universitätsklinikum Köln und am Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung.

Um die Hierarchie angeborener Verhaltensweisen wie Essen, Trinken, Geselligkeit und Paarung zu klären, beobachtete und stimulierte Korotkovas Team die Neuronen der Maus im lateralen Hypothalamus, einem der wichtigsten „Fütterungszentren“ des Gehirns. Sie konzentrierten sich auf Neuronen, die Rezeptoren für Leptin und Neuronen, die Neurotensin produzieren. Leptin und Neurotensin sind Hormone, die mit Hunger und Durst in Verbindung stehen. Zu ihrer Überraschung stellte das Team fest, dass diese Neuronen auch an der Steuerung des Sozialverhaltens beteiligt sind und den Mäusen helfen, ihre Ernährungs- und Sozialbedürfnisse auszugleichen.

Hormon

Hormon/-/hormone

Hormone sind chemische Botenstoffe im Körper. Sie dienen der meist langsamen Übermittlung von Informationen, in der Regel zwischen dem Gehirn und dem Körper, z.B. der Regulation des Blutzuckerspiegels. Viele Hormone werden in Drüsenzellen gebildet und in das Blut abgegeben. Am Zielort, z.B einem Organ, docken sie an Bindestellen an und lösen Prozesse im Inneren der Zelle aus. Hormone haben eine breitere Wirkung als Neurotransmitter, sie können verschiedene Funktionen in vielen Zellen des Körpers beeinflussen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Hypothalamus steuert auch das soziale Verhalten

„Wir waren erstaunt, dass der laterale Hypothalamus Fressen und Trinken mit sozialem Verhalten verbindet“, sagt Erstautorin Anne Petzold. „Die Aktivierung von Leptinrezeptor-Neuronen führt dazu, dass Mäuse trotz akuten Hungers oder Durstes soziale Interaktionen bevorzugen. Das ist biologisch sinnvoll, denn Paarungspartner hat man nicht ständig um sich herum, also muss man manchmal Hunger oder Durst ignorieren, um sich paaren zu können.“

Die Forschenden benutzten winzige Mikroskope, um die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn zu beobachten, während die Mäuse ein Gehege mit Futter, Wasser und anderen Mäuse erkundeten. „Es war ein großer Vorteil, dass wir die Aktivität der Neuronen bei einem sich frei verhaltenden Tier aufzeichnen konnten“, sagt Korotkova. „Wir konnten wirklich sehen, wie sich die neuronale Aktivität während bestimmter Verhaltensweisen verändert, und wir konnten die Aktivität einzelner Zellen mit hoher zeitlicher Präzision verfolgen und verändern.“

Um zu sehen, wie sich die Prioritäten der Mäuse je nach ihrem Hungerlevel änderten, verglich das Team das Verhalten von Mäusen, die unbegrenzten Zugang zu Nahrung hatten, mit „akut hungrigen“ Mäusen (deren Nahrung über Nacht eingeschränkt worden war) und „chronisch hungrigen“ Mäusen (deren Nahrung fünf Tage lang eingeschränkt worden war). Dieser „chronische Hunger“ kann auch in der freien Natur auftreten, wo nicht ständig Nahrung zur Verfügung steht.

Es zeigte sich, dass die Leptinrezeptor-Neuronen gehemmt wurden, wenn die Mäuse fraßen, und aktiviert wurden, wenn sie mit Mäusen des anderen Geschlechts – potenziellen Partnern – interagierten, nicht aber, wenn sie mit Mäusen des gleichen Geschlechts interagierten. 

Hypothalamus

Hypothalamus/-/hypothalamus

Der Hypothalamus gilt als das Zentrum des autonomen Nervensystems, er steuert also viele motivationale Zustände und kontrolliert vegetative Aspekte wie Hunger, Durst oder Sexualverhalten. Als endokrine Drüse (die – im Gegensatz zu einer exokrinen Drüse – ihre Hormone ohne Ausführungsgang direkt ins Blut abgibt) produziert er zahlreiche Hormone, die teilweise die Hypophyse hemmen oder anregen, ihrerseits Hormone ins Blut abzugeben. In dieser Funktion spielt er auch bei der Reaktion auf Schmerz eine wichtige Rolle und ist in die Schmerzmodulation involviert.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Leptin macht mäßig hungrige Mäuse gesellig

Als Nächstes setzten die Forschenden Licht und chemische Signale ein, um die Neuronen selektiv zu stimulieren, und beobachteten, ob und wie diese Aktivierung das Verhalten der Mäuse veränderte. Die Leptinstimulation hatte nur geringe Auswirkungen auf das Verhalten der satten Mäuse, die im Allgemeinen mehr an sozialen Kontakten als an Essen interessiert waren. Als die Forschenden jedoch die Leptinrezeptor-Neuronen der akut hungrigen Mäuse aktivierten, änderten sich ihre Prioritäten: Sie näherten sich dem Futter langsamer, aßen weniger und verbrachten mehr Zeit mit sozialen Kontakten zu potenziellen Partnern und Partnerinnen. Allerdings konnte die Leptinstimulation den stärkeren Hunger von Mäusen mit chronischer Nahrungsbeschränkung nicht aufheben: ihr Appetit blieb erhalten und ihre Prioritäten änderten sich auch nicht durch die Leptinaktivierung. 

„Wir haben also ein System, das nur mäßigen Hunger, aber keinen stärkeren Hunger regulieren kann“, sagt Korotkova. „Dieser Kreislauf könnte dazu beitragen, warum Diäten oft nicht funktionieren: Es ist kein Problem, die Nahrungsaufnahme für kurze Zeit zu reduzieren, aber es funktioniert schwieriger, wenn man es länger versucht.“
Im Gegensatz dazu beobachteten die Forscher*innen bei der Aktivierung von Neurotensin-Neuronen ein verstärktes Trinkverhalten auf Kosten von sozialen Kontakten.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Eine Nervenzelle koordiniert verschiedene Verhaltensweisen

„Normalerweise denken wir, dass Neuronen eine bestimmte Funktion haben, aber wir fanden heraus, dass eine Zelle tatsächlich mehrere verschiedene Reize kodieren kann“, sagt Korotkova. Das sei biologisch sinnvoll, denn Verhaltensweisen müssen koordiniert werden und es ist viel effizienter, Verhaltensweisen mit ein und derselben Zelle zu koordinieren, als wenn viele verschiedene Zelltypen irgendwie miteinander kommunizieren.“ Sie resümiert: „Als Nächstes möchten wir verstehen, wie sich die Aktivität dieser Zellen während des Fortschreitens von Fettleibigkeit oder der Entwicklung von Essstörungen verändert.“

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Originalpublikation

Petzold A, van den Munkhof HE, Figge-Schlensok R, Korotkova T. Complementary lateral hypothalamic populations resist hunger pressure to balance nutritional and social needs. Cell Metabolism 35, p.1–16; March 7, 2023
https://doi.org/10.1016/j.cmet.2023.02.008

lateral

lateral/-/lateral

Eine Lagebezeichnung – lateral bedeutet „zur Seite hin“ gelegen. Im Bezug auf das Nervensystem handelt es sich um eine Richtung im rechten Winkel zur neuralen Achse, also nach rechts oder links.

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