Question to the brain

Was passiert, wenn mir ein Wort auf der Zunge liegt?

Questioner: Beate K. via E-Mail

Published: 19.07.2013

Wenn mir ein Wort auf der Zunge liegt, ich es aber nicht ausspucken kann: Was passiert da in meinem Gehirn?

The editor's reply is:

Prof. Dr. Dr. Horst M. Müller, Arbeitsgruppe Experimentelle Neurolinguistik, Universität Bielefeld:

Wenn wir ein bestimmtes Wort benötigen, zum Beispiel um ein Objekt zu benennen, beim Nachdenken oder im Rahmen der aktuellen Gesprächsplanung, dann rufen wir den passenden Worteintrag aus dem so genannten mentalen Lexikon ab. Hier sind alle etwa 20.000 bis 60.000 Wörter gespeichert, über die ein normaler Sprecher verfügt. Bei dieser Suche können wir gelegentlich durchaus feststellen, dass wir gar nicht über das gesuchte Wort verfügen, es also nie gelernt oder es bereits wieder vollständig vergessen haben. Manchmal spüren wir aber, dass wir das gesuchte Wort eigentlich kennen und wir auch bestimmte Komponenten der Wortinformation abrufen können – nur will es nicht gelingen, dass der gesuchte Eintrag im Lexikon des Gehirns vollständig aktiviert wird. Dann können wird das Zielwort nicht benennen.

Es handelt sich in diesem Fall um das Zungenspitzen-​Phänomen, das „tip of the tongue phenomenon“, kurz „TOT state“. Gelegentlich wird es auch „linguale Hemmung“ genannt. Bei einem TOT state wissen wir ganz genau, dass wir das gesuchte Wort kennen und können sogar einige Angaben machen: zum Beispiel zum Betonungsmuster, zum grammatischen Geschlecht, zur Silbenanzahl oder zum Anfangslaut des Zielwortes. Um das gesuchte Wort vollständig zu aktivieren, liegen jedoch nicht ausreichend viele Teil-​Aktivierungen vor, um es letztlich auch hervorzubringen. Diese bewusste Fehlleistung sorgt dafür, dass man das Wort als quasi auf der Zunge liegend wahrnimmt. Es ist weiterhin möglich, dass beispielsweise die erinnerten lautlichen Informationen ein vom Reim passendes, aber falsches Wort aktivieren. Wenn das passiert, wird die Aktivierung des Zielwortes zusätzlich erschwert.
Das TOT-​Phänomen kennen Sprecher in allen Sprachen. Es kommt bei Jugendlichen ebenso vor wie bei älteren Menschen. Allerdings passiert es älteren Menschen häufiger als jüngeren. Und insbesondere im Alter sind Eigennamen häufiger betroffen als sonstige Nomen.

Im Vergleich zu Nomen wie „Stuhl“ oder „Tasse“ sind Eigennamen viel weniger im Gehirn vernetzt und sie referieren auf nur einen einzigen Eintrag, zum Beispiel die Person Sabine. Das Wort Tasse hingegen hat eine stärker vernetzte, konzeptuelle Bedeutung. Diese kann im mentalen Lexikon von mehreren Netzknoten aus aktiviert werden und ist somit robuster abgesichert.

Gelegentlich vorkommende TOT states sind somit völlig normal. Anders ist das, wenn eine Benennstörung erworben wurde, zum Beispiel bei einer amnestischen Aphasie, einer Sprachstörung durch eine Hirnschädigung.

Mit bildgebenden Verfahren lassen sich während eines TOT states mehrere Hirnregionen in beiden Hemisphären ausmachen, die eine Aktivitätserhöhung zeigen: unter anderem im Stirnlappen, im oberen Teil des Schläfenlappens, in der Wernicke-​Region. Weiterhin wurden mehrere psycholinguistische Hypothesen zur Erklärung des Phänomens formuliert. Es ist aber nach wie vor nicht verstanden. Dennoch ist das Phänomen für die Untersuchung der Stufen der Sprachproduktion sehr interessant und es hat wichtige Einsichten in den Aufbau des mentalen Lexikons aus einzelnen Komponenten geliefert.

Aufgezeichnet von Franziska Badenschier

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