Frage an das Gehirn

Nutzen wir nur einen Bruchteil des Gehirns?

Fragesteller/in: Carmen aus Karlsruhe

Veröffentlicht: 12.08.2025

Ich habe gelesen, dass wir nur 10 oder 25 Prozent unserer Gehirnkapazität nutzen. Stimmt das?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Antwort von Michael R. Kreutz, Leiter der Forschungsgruppe Neuroplastizität am Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg:  Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Grund zur Annahme, dass wir nur einen Bruchteil unserer Gehirnressourcen nutzen. Solche Behauptungen suggerieren, dass wir unsere kognitive Leistung extrem verbessern oder höhere Bewusstseinszustände erreichen könnten, wenn wir nur unser gesamtes Potential nutzen würden. Dahinter steckt meist Ideologie oder zumindest Marketing. So verbreitet etwa Scientology den sogenannten Zehn-Prozent-Mythos und behauptet, mit den eigenen Lehren könne der ungenutzte Rest des Gehirns aktiviert werden. Auch in populärer Ratgeberliteratur sind immer wieder Prozentangaben zur Nutzung der Gehirnkapazität zu finden. Solche Aussagen sind nicht seriös. Unklar bleibt schon alleine, was genau mit dem Begriff "Gehirnkapazität" gemeint ist. 

Um wissenschaftliche Aussagen über die Nutzung des Gehirns zu machen, muss man sich beispielsweise auf eine konkrete kognitive Leistung beziehen. Man könnte etwa untersuchen, wie gut das episodische Gedächtnis einer Person funktioniert. Es ist für persönliche Erinnerungen zuständig und bei Demenzerkrankungen stark betroffen. Um nun die Leistung in Prozentangaben zu beziffern, müsste man zunächst einen Normwert für die normale Gedächtnisleistung definieren. Davon werden dann besonders erkrankte Personen stark abweichen. 

Ein gesundes, aber bis zu 90 Prozent ungenutztes Gehirn ist dagegen ein Mythos. Immerhin gehen 25 Prozent unseres gesamten Energiehaushalts auf das Gehirn. Es am Laufen zu halten, ist für den menschlichen Körper also teuer. Die Evolution würde kein Gehirn hervorbringen, das so ineffizient ist. Richtig ist aber: Wenn wir uns geistigen Herausforderungen stellen, etwas Neues lernen, trainieren wir unser Gehirn. Individuell verschiedene kognitive Grenzen haben mit den Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen zu tun, der sogenannten Konnektivität. Mit der Zeit erlangt jeder Mensch in dieser Hinsicht ein gewisses Optimum für sein Gehirn, auf das sich die Synapsen eingependelt haben. Weil die kognitive Leistung damit zu tun hat, wie wir unser Gehirn nutzen, lässt sich da immer noch einiges herausholen.  

Ist ein Mensch gesund und nutzt sein Gehirn normal, bezweifle ich jedoch, dass er seine Leistung extrem verbessern kann. Leistungsseigerung des Gehirns durch Medikamente oder spezielles Training wird aus meiner Sicht erst relevant, wenn es zu Störungen oder Krankheiten wie beispielsweise Demenz kommt. Hier kommt auch die sogenannte Hirnreserve ins Spiel: Sie ist bildlich gesprochen das dem Gehirn zur Verfügung stehende Kapital, mit dem es unvermeidbare Ausgaben begleichen kann. Durch seine Plastizität kann das Gehirn also Verluste und Schäden zu einem gewissen Grad ausgleichen, indem neue synaptische Verbindungen entstehen. Ein vielversprechender Bereich in der Demenzforschung ist die Hirnstimulation. Dabei werden Magnetfelder oder implantierte Elektroden eingesetzt, um bestimmte Bereiche des Gehirns zu aktivieren und so der Hirnreserve auf die Sprünge zu helfen.

Aufgezeichnet von Natalie Steinmann

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