Erstaunliche Vorlieben

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Erstaunliche Vorlieben
Autor: Ulrich Pontes

Das Belohnungssystem motiviert uns nicht nur zum Arterhalt. Es wird auch bei ganz anderen Dingen aktiv – etwa beim Anblick schöner Gesichter, bei Kooperation und dem Spenden von Geld. Ein Überblick über die erstaunlichen Vorlieben unseres Gehirns.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Anja Achtziger

Veröffentlicht: 01.09.2011

Niveau: mittel

Das Wichtigste in Kürze
  • Das Belohnungssystem im Gehirn ist nicht nur für die Sicherung des Überlebens zuständig.
  • Auch romantische Liebe und attraktive Gesichter lösen eine neuronale Belohnung aus.
  • Sogar unser Antrieb für selbstloses Handeln und unser Sinn für Gerechtigkeit scheinen auf diese Weise verstärkt zu werden.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

„Sich von einer Versuchung frei machen kann man nur, indem man ihr nachgibt.“ Lord Henry in Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ wusste von der bisweilen fatalen Anziehungskraft der süßen Seiten des Lebens. Lange bevor Forscher ahnten, dass bestimmte Schaltkreise im Gehirn uns fast schon darauf programmieren, dass wir Versuchungen gegenüber schwach werden.

Heute ist die verführerische Kraft von Leckereien, Genussmitteln oder Erotik entzaubert: Das Belohnungssystem in unserem Gehirn, ein Erbe der Evolution, verstärkt Verhaltensweisen, die das Überleben und die Erhaltung der Art sichern. Essen, Trinken, sich Fortpflanzen – würden nicht die auf dem Neurotransmitter Dopamin beruhenden Bahnen des mesocortikolimbischen Belohnungssystems uns zu derlei Verhalten motivieren, gäbe es uns gar nicht. Allein der Anblick eines Fotos mit schmackhaftem Essen oder mit einem niedlichen Baby genügt, um die Dopaminproduktion im Gehirn anzukurbeln und uns ein gutes Gefühl zu geben.

Doch das Belohnungssystem wird auch bei Dingen aktiv, die auf den ersten Blick relativ wenig mit dem direkten Arterhalt zu tun haben – und bestimmt so zum Teil erstaunliche Vorlieben. Die vielleicht schönste dieser neurologischen Neigungen ist jene, die der Anti-​Held Dorian Gray in Oscar Wildes Roman nie hat fühlen können: die romantische Liebe.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Neurotransmitter

Neurotransmitter/-/neurotransmitter

Ein Neurotransmitter ist ein chemischer Botenstoff, eine Mittlersubstanz. An den Orten der Zell-​Zellkommunikation wird er vom Senderneuron ausgeschüttet und wirkt auf das Empfängerneuron erregend oder hemmend.

Dopamin

Dopamin/-/dopamine

Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Süchtig nach romantischer Liebe

Ein Team von Psychologen und Neurowissenschaftlern um Artur Aron von der State University of New York schob vor einigen Jahren frisch verliebte junge Männer und Frauen in den Kernspintomographen. Zeigten die Forscher den Probanden Bilder der jeweils geliebten Partner, konnten sie Aktivierungen im ventralen Tegmentum und im Nucleus caudatus nachweisen. Das sind wichtige Teile des Belohnungssystems – und, wie die Wissenschaftler betonen, andere neuronale Signalwege als beim Geschlechtstrieb.

Der Zusammenhang zwischen romantischer Liebe und unserem Belohnungssystem lasse sich auch am Verhalten der Verliebten selbst erkennen, so die Forscher: Man sei fokussiert auf ein Objekt, leide, wenn man ihm nicht nah sein kann, und könne das Verlangen kaum selbst kontrollieren. Liebe gleiche also in gewissem Sinne einer Sucht.

Unser Gehirn, süchtig nach Liebe? Das klingt romantisch. Doch die Einschätzung der Forscher ist ernüchternd: Neben dem Sexualtrieb, glauben sie, dient auch die Fokussierung auf einen Partner indirekt der Fortpflanzung. Diese individuelle Attraktion verhindert unnötigen Kraftverschleiß dadurch, dass man ständig allen potentiellen Partnern hinterherläuft.

Tegmentum

Tegmentum/-/tegmentum

Tegmentum (von lateinischen „tegere“ „bedecken“). Es handelt sich um den rückwärtigen, unter dem Aquädukt gelegenen Teil des Mittelhirns. Hier finden sich Kerne wie die Substantia nigra, Formatio reticularis, Hirnnervenkerne und der Nucleus ruber.

Nucleus

Nucleus/Nucleus/nucleus

Nucleus, Plural Nuclei, bezeichnet zweierlei: Zum einen den Kern einer Zelle, den Zellkern. Zum zweiten eine Ansammlung von Zellkörpern im Gehirn.

Nucleus caudatus

Nucleus caudatus/Nucleus caudatus/caudate nucleus

Teil der Basalganglien, gemeinsam mit dem Putamen und dem Pallidum. Anatomisch liegt der Nucleus caudatus frontal zur Mitte des Gehirns. Er besteht aus einem Kopf– (Caput nuclei caudati), einem Körper — (Carpus nuclei caudati) und einem Schwanzbereich (Cauda nuclei caudati). Im Gegensatz zu den eher motorischen Anteilen der Basalganglien besteht hier eine starke Vernetzung mit dem präfrontalen Cortex. Automatisierung kognitiver Aufgaben ist also vor allem im Nucleus caudatus repräsentiert.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Hübsche Gesichter bevorzugt

Dazu passt, dass auch ein anderer Aspekt das Belohnungssystem unseres Gehirns aktiv werden lässt: Attraktivität. Forscher des Massachusetts General Hospital in Boston konnten bereits 2001 zeigen, dass für heterosexuelle Männer schon der Anblick bloßer Fotos von attraktiven Frauengesichtern als Belohnung wirkt.

Die Forscher zeigten ihren Versuchspersonen Bilder von Männern und von Frauen, die teils sehr, teils durchschnittlich attraktiv waren. Als die Probanden die Attraktivität auf einer Skala bewerten sollten, bekamen bei beiden Geschlechtern die attraktiven Personen hohe, die weniger attraktiven niedrigere Punktzahlen. Im Kernspintomographen jedoch zeigte sich, dass nur bei den Bildern der Frauen das Belohnungssystem der Männer aktiv war. Und hierbei wiederum nicht bei allen Bildern, sondern nur bei denen der attraktiv gewerteten Frauen. Nur der Anblick hübscher Damen löste also eine Belohnung im Gehirn aus.

Weibliche Probanden wurden in dieser Studie übrigens nicht untersucht: Bei ihnen wird die Bewertung von Attraktivität durch den Zyklus und die damit verbundenen Hormonschwankungen zusätzlich verkompliziert.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Lieber gemeinsam leiden

Unser Belohnungssystem agiert jedoch nicht nur eigennützig: Auch selbstloses Verhalten kann es aktivieren. Forscher der Emory University in Atlanta wiesen das 2002 beispielsweise für den Fall gelingender Kooperation beim sogenannten Gefangenendilemma nach. Dabei geht es darum, dass zwei Mitspieler getrennt voneinander eines gemeinsamen Verbrechens beschuldigt werden. Leugnen beide, kommen sie mit einer geringen Strafe davon. Gesteht aber einer der beiden und sagt gegen den anderen aus, kommt er in den Genuss einer Kronzeugenregelung – und der andere lange Zeit ins Gefängnis. Das Problem ist, das keiner von beiden weiß, wie der andere entscheiden wird.

Die Studie ergab: Aktiviert wurde das Belohnungssystem am stärksten, wenn sich die Probanden durch Leugnen der Tat gegenseitig unterstützten, sich also für das kleinere Übel für beide entschieden, statt die Straffreiheit für sich selbst zu wählen. Das Gehirn belohnte also Kooperation – und womöglich gar altruistisches, also selbstloses Handeln.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Sinn für Gerechtigkeit

Und auch für Gerechtigkeit scheint das Gehirn eine Vorliebe zu haben. 2010 veröffentlichten Forscher des California Institute of Technology eine Untersuchung, bei der die Versuchspersonen in Zweiergruppen aufgeteilt wurden und einen Geldbetrag zugeteilt bekamen. Dabei erhielt jeweils einer der beiden nach dem Zufallsprinzip 50 Dollar Bonuskapital, während der andere ohne Bonus blieb. Im Hirnscanner liegend konnten sie dann an einem Computerbildschirm beobachten, wie ein Teil ihres Geldes an den anderen Mitspieler überwiesen wurde – oder sie selbst etwas von ihm erhielten. Die „Armen“ zeigten daraufhin wie erwartet mehr Reaktion im Belohnungssystem, wenn sie selbst von dem folgenden Geldtransfer begünstigt wurden. Bei den „Reichen“ aber war es umgekehrt: Bei ihnen waren die gleichen Hirnregionen stärker aktiviert, wenn der Geldtransfer den anderen Spieler begünstigte und so die anfängliche Ungleichheit wenigstens teilweise ausglich.

Noch weiter gingen die Probanden in einer Züricher Studie aus dem Jahr 2004. Sie spielten miteinander um Geld und konnten dabei vertrauensvoll kooperieren oder eben nicht. Hinterging aber einer der Spieler den anderen, konnte dieser den Egoisten bestrafen. Obwohl ihn das selbst Geld kostete, brachte diese Aktion dem Bestrafenden Befriedigung – und aktivierte einen Bereich, der eine wichtige Rolle im Belohnungssystem spielt. Getreu dem Motto „Rache ist süß“ war es dem Gehirn also lieb und teuer, einen Vertrauensmissbrauch zu ahnden. Diese Vorliebe dürfte eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, dass der Mensch überhaupt soziale Normen entwickeln konnte, schreiben die Forscher.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Steuern zahlen macht glücklich

Die Ergebnisse der beiden Studien verblüffen umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass Geldgewinne selbst das Belohnungszentrum aktivieren. Darum sollte eigentlich jeder Verlust für Missstimmung sorgen. Doch das Gehirn ist eben komplexer gestrickt, wie auch eine Studie der University of Oregon von 2007 beweist: Die Probanden lagen im Hirnscanner und hatten einen realen Geldbetrag von 100 Dollar erhalten. Nun wurden ihnen Kontobewegungen angezeigt: Ab und zu ein Geldgewinn, ansonsten Transfers, die in unterschiedlichem Maß das Konto belasteten und eine Lebensmittelhilfe im Ort begünstigten. Teils konnte sich der Proband für oder gegen den Geldtransfer entscheiden, wie bei einer Spende. Teils musste er aber auch machtlos zusehen, wie das Geld abgeführt wurde – ähnlich einer Steuer.

Das Ergebnis: Auch bei freiwilligen Spenden wurde das Belohnungszentrum aktiv. Aber nicht nur das: Sogar die unfreiwilligen Abbuchungen zugunsten der Hilfseinrichtung führten, wenn auch etwas schwächer ausgeprägt, zu ganz ähnlicher Aktivität im Gehirn. „Es kann Bürger froh machen, Steuern zu zahlen“, fasst Ulrich Mayr, einer der Autoren, das Ergebnis zusammen. Politiker sollten sich die Studie also einmal genauer anschauen.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

zum Weiterlesen:

  • Fisher, H. et al.: Romantic love: a mammalian brain system for mate choice. In: Philosophical Transactions Royal Society B. 2006;361 (1476):2173 – 218 (zum Text).
  • Rilling. J. et al.: A Neural Basis for Social Cooperation. Neuron. 2002; 35:395 – 405 (zum Text).
  • Tricomi, E. et al.: Neural evidence for inequality-​averse social preferences. Nature. 2010; 463 (25):1089 — 1091 (zum Text).

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

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One comment

Frank Raguse 20.01.2017
>> Noch weiter gingen die Probanden in einer Züricher Studie aus dem Jahr 2004. Sie spielten miteinander um Geld und konnten dabei vertrauensvoll kooperieren oder eben nicht. Hinterging aber einer der Spieler den anderen, konnte dieser den Egoisten bestrafen. Obwohl ihn das selbst Geld kostete, brachte diese Aktion dem Bestrafenden Befriedigung

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