Theory of Mind – ein Kinderspiel!

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Theory of Mind
Autor: Leonie Seng

Sich in die Überzeugungen anderer hinein zu denken, ist ein Kinderspiel: Ab dem Alter von etwa drei Jahren zeigen Kinder diese Fähigkeit, und schon früher gibt es Anzeichen der Theory of Mind. Den Kleinen diese zu entlocken, erfordert Kreativität.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Johanna Kißler

Veröffentlicht: 15.12.2011

Niveau: mittel

Das Wichtigste in Kürze
  • Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, die Gedanken und Überzeugungen anderer logisch erschließen zu können
  • Die Entwicklung der Theory of Mind ist ein wichtiger Baustein in der Psyche von Kindern
  • Im Alter von vier bis fünf Jahren wird die Theory of Mind in der Regel ausgebildet, bei der Untersuchung von jüngeren Kindern gibt es unterschiedliche Ergebnisse zum Einschätzungsvermögen.
Freunde als ToM-Förderer

Lange Zeit nahm man an, dass Mädchen Theory of Mind früher entwickeln als Jungs. Dies widerlegt eine Studie um Barlow Wright und Janina Mahfoud von der Brunel University of London vom Oktober 2011. Die Psychologen untersuchten außerdem, ob und wie Familie und Freunde einen Einfluss auf die Entwicklung der ToM haben. Kinder mit älteren Geschwistern entwickeln ToM früher, so das Ergebnis. Ältere Geschwister hingegen hätten einen Nachteil. Besonders wichtig sei es, Freunde in der Schule zu haben, so die Forscher. Die Größe der Familie spiele hingegen keine Rolle für die Ausbildung der ToM.

ToM im Gehirn

Als Kernort für die Theory of Mind ebenso wie für die Kontrolle kognitiver Fähigkeiten ist der Frontalcortex bekannt, der in dieser Entwicklungsphase großen Veränderungen unterworfen ist. Aber auch der Parietalcortex spielt eine wichtige Rolle: Dort werden Aufmerksamkeitsprozesse verschaltet.

Genauer liegen der Theory-of-Mind-Aktivität vor allem zwei Bereiche im Gehirn zugrunde: An der so genannten temporoparietal junction und im medialen präfrontalen Cortex Erstere ist der Ort, wo der temporale (Schläfenlappen) und der parietale Hirnlappen am Hinterkopf zusammentreffen – am posterioren Ende der sylvischen Fissur. Eine wichtige Aufgabe dieser Region scheint es zu sein, die aktuellen Überzeugungen anderer zu repräsentieren, wie zum Beispiel den Glauben, dass sich in einer Dose Kekse befinden. Die Aktivität im medialen präfrontalen Cortex gilt als neuronales Korrelat für die Verarbeitung komplexerer Information über das eigene Wissen im Vergleich zum Wissen anderer Personen. Dazu zählen beispielsweise das Erschließen von länger andauernden Überzeugungen und die soziale Interaktion zwischen mehreren Personen. Dieser Bereich ist aktiv bei Reflexionen und Repräsentationen von Normen und Absichten auf einem höheren Niveau.

Viele Forscher halten es für wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen einem Defizit in der Entwicklung von ToM und frühkindlichem Autismus besteht. Welche Hirnareale hierbei konkret eine zentrale Rolle spielen, ist aber noch umstritten.

Präfrontaler Cortex

Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex

Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.

Temporallappen

Temporallappen/Lobus temporalis/temporal lobe

Der Temporallappen ist einer der vier großen Lappen des Großhirns. Auf Höhe der Ohren gelegen erfüllt er zahlreiche Aufgaben – zum Temporallappen gehören der auditive Cortex genauso wie der Hippocampus und das Wernicke-​Sprachzentrum.

Fissur

Fissur/-/fissure

Durch die starke Faltung des Cortex (Großhirnrinde) entstehen Fissuren – vom lateinischen: Furchen. Diese Furchen lassen sich zur Beschreibung einzelner Hirnstrukturen nutzen, so trennt beispielsweise die Fissura sylvii den Schläfen– vom Frontallappen.

Cortex

Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex

Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.

Autismus

Autismus/-/autism

Gravierende Entwicklungsstörung, die sich oft in reduzierten sozialen Fähigkeiten, verminderter Kommunikation und stereotypem Verhalten ausdrückt.

Tim sitzt am Tisch, eine Keksdose vor sich. Gespannt beobachtet der Vierjährige, wie die Versuchsleiterin die Dose öffnet. Doch binnen Sekunden wandelt sich die Erwartung in eine Mischung aus Überraschung und Enttäuschung: Statt Kekse erblickt Tim Buntstifte. Nun stellt die Leiterin die entscheidende Frage: Was glaubst Du, wird ein anderes Kind, das wir gleich hereinholen, in der Dose vermuten? Tim überlegt kurz, antwortet dann bestimmt: „Ist doch klar: Kekse!“ Damit hat das Kind den Test bestanden. Es verfügt über ein psychisches Konzept, das in der Wissenschaft auch Theory of Mind (ToM) genannt wird.

Die Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinversetzen zu können. Tim weiß, dass ein anderes Kind noch keinen Blick in die Dose werfen konnte. Daraus schließt er, dass es derselben falschen Überzeugung sein muss wie er selbst zu Beginn. Auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrung ist der Junge also fähig, einem anderen Kind eine Überzeugung zuzuschreiben – obschon er die davon abweichende Realität sehr wohl kennt. „Es ist ein Meilenstein in der Entwicklung der Psyche, sich in andere hineinversetzen zu können“, sagt Beate Sodian, Professorin der Entwicklungspsychologie an der Ludwig-​Maximilians-​Universität in München.

Experimente mit Koffern und Spielzeugautos

Getestet wird die Entwicklung der kognitiven Fähigkeit mit einer Reihe von Experimenten. Als Klassiker gilt die so genannte „False-​belief-​Aufgabe“, die bereits 1983 von den Psychologen Heinz Wimmer und Josef Perner entwickelt wurde. 63 Kinder sahen damals, wie eine Person beispielsweise ein Buch in einen gelben Koffer legte. Dann beobachteten sie, wie eine andere Person das Buch in der Abwesenheit der ersten aus dem gelben Koffer nahm und in einen roten Koffer legte. Schließlich wurden die Kinder gefragt, in welchem der Koffer die erste Person nach dem Buch suchen würde. 86 Prozent der Sechs– bis Neunjährigen antworteten richtig, ebenso über die Hälfte der Vier– bis Sechsjährigen – aber kein Kind, das jünger war. Im Alter von vier bis fünf Jahren können Kinder zwischen Glauben und Realität unterscheiden, sie verstehen also, dass es Überzeugungen geben kann, die nicht der Realität entsprechen.

Die Meinungen und Studienergebnisse über die Altersgrenze der ToM gehen allerdings stark auseinander – was Sodian zufolge auch daran liegen könnte, dass jüngere Kinder die Aufgaben zum Teil schlicht noch nicht verstehen. „In einfachen Aufgaben mit wenig Ablenkungsmöglichkeiten und geringen Anforderungen an das Sprachverständnis können auch dreijährige Kinder unter Umständen schon richtige Antworten in den ‚False-​belief-​Aufgaben‘ geben“, sagt sie. Jüngeren Studien zufolge sollen bereits Zweijährige fähig sein, anderen eine falsche Überzeugung zuzuschreiben – während andere Experimente zu dem Ergebnis kamen, dass Dreijährige zwar schon auf die subjektive Verfassung eines anderen Bezug nehmen können, jedoch nicht begreifen, dass deren subjektive Überzeugungen falsch sein können.

Wie aber testet man die Gedanken von Kleinkindern, die sich noch nicht oder kaum in Worten äußern können? Hier wenden Forscher einen Trick an: Sie messen die Blickbewegungen des Kindes, während dieses gemütlich auf dem Schoß seiner Mutter sitzt. Wo der Blick ist, dort ist auch die Aufmerksamkeit. Die Kleinen sehen beispielsweise ein Spielzeugauto vor einem Fenster von links nach rechts fahren. Hinter dem Fenster steht eine Person, die das Geschehen beobachtet. Während die Person sich abwendet und ans klingelnde Telefon geht, sieht das Baby, wie das Auto wieder von rechts nach links zurückfährt. Kommt die Person nun zurück und will nach dem Auto greifen, blicken viele Kinder sofort – wohin? Nach rechts. Dort also, wo die Person das Auto erwartet.

„Schon im zweiten Lebensjahr findet man erstaunlich präzise Handlungserwartungen von Kleinkindern“, sagt Beate Sodian. Allerdings könne man nicht feststellen, ob ein Kind, welches erwartet, dass eine Person am Ort X nach einem Objekt sucht, tatsächlich versteht, dass die Person glaubt, das Objekt befinde sich dort. Ebenso sei denkbar, dass die Kinder eine allgemeine Verhaltensregel anwenden wie zum Beispiel: „Menschen suchen meistens dort, wo sie etwas zuletzt gesehen haben“.

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit/-/attention

Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.

Empfohlene Artikel

Hirnentwicklung im Kleinkindalter

Die Tatsache, dass die Entwicklung der Theory of Mind bei Kindern in das Kleinkind-​Alter fällt, hat auch mit der Hirnentwicklung zu tun. Die Fähigkeit, Überzeugungen anderer einzuschätzen, ist eine Funktion, die sich aus dem Zusammenspiel verschiedener kognitiver Fähigkeiten ergibt – wie dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit, Sprache, Gesichts– und Blickerkennung sowie der Fähigkeit, Kausalzusammenhänge zu begreifen.

Eine wichtige Grundlage für die Theory of Mind ist auch die Sprachentwicklung. Schon Kinder mit zwei Jahren benutzen Worte, die Emotionen beschreiben – allerdings meist ihre eigenen. Mit etwa drei Jahren fangen Kinder dann an, auch kognitive Ausdrücke wie „Ich denke“, zu verwenden. Die Fähigkeit, eigene Gedanken, Wünsche und Absichten zu haben, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass sich Verständnis für Überzeugungen anderer herausbilden kann (siehe Info-​Kasten).

„Forschung mit Kindern ist unterhaltsam und spannend“, sagt Beate Sodian. Es ist eine Herausforderung für Wissenschaftler, Aufgaben so zu stellen, dass sie zum einen von den Kindern verstanden werden können und gleichzeitig die Fähigkeiten abbilden, die tatsächlich untersucht werden sollen. Die Erforschung der Entwicklung der Theory of Mind erfordert also selbst eine gute Theory of Mind, eine Menge Geduld und Einfühlungsvermögen.

Emotionen

Emotionen/-/emotions

Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.

zum Weiterlesen:

  • Aichhorn, M. et al.: Temporo-​parietal Junction Activity in Theory-​of-​Mind Tasks: Falseness, Beliefs, or Attention. In: Journal of Cognitive Neurosciences. 2010; 21 (6):1179 – 1192 (zum Abstract).
  • Baillargeon, R., Scott, R. M., & He, Z.: False-​belief understanding in infants. Trends in Cognitive Sciences. 2010; 14:110 – 118 (zum Abstract).
  • Barlow, C. et al.: Child-​centred exploration of the relevance of family and friends to theory of mind development. Scandinavian Journal of Psychology. 2012; 53 (1): 32 — 40 (zum Abstract).
  • Lombardo, M. et al.: Shared neural circuits for mentalizing about the self and others. Journal of Cognitive Neurosciences. 2010; 22 (7):1623 — 1635 (zum Abstract).
  • Smetlana, J. G. et al.: Reciprocal associations between young children’s developing moral judgments and theory of mind. Developmental Psychology. 2011; 48 (4): 1144 — 1155 (zum Abstract).

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