Frage an das Gehirn

Was kommt zuerst: die neuronale Aktivität oder das Denken?

Fragesteller/in: Daniel Carvalho

Veröffentlicht: 20.11.2016

Es klingt wie die Frage danach, was zuerst da war: Huhn oder Ei? Doch gibt es zwischen kognitiven Prozessen und Hirnaktivität überhaupt Ursache und Wirkung?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Dr. Carlos Zednik, Neurophilosophie, Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg: Das ist die falsche Frage. Denn es ist meiner Ansicht nach ein Missverständnis anzunehmen, dass eins das andere verursacht. Eigentlich müsste man sagen, dass neuronale Aktivität, also Aktivität in Nervenzellnetzwerken, mentale Phänomene, wie das Denken und Vorstellen, konstituiert. Das bedeutet, es passiert immer zur selben Zeit.

Am Beispiel eines Stuhls wird das deutlicher: Im Grunde besteht dieser aus Molekülen und Atomen. Trotzdem würde niemand auf die Idee kommen zu sagen, dass die Moleküle und Atome den Stuhl verursachen. Ebenso würde ich nicht sagen, dass neuronale Aktivität Gedanken verursacht oder Gedanken zu neuronaler Aktivität führen. Vielmehr besteht ein mentaler Prozess wie das Denken aus neuronaler Aktivität.

Es gibt da also keinen kausalen Zusammenhang, keine Ursache und Wirkung. Denn im Prinzip ist es dasselbe. Würde man von Kausalität sprechen, müsste die Ursache auch immer vor der Wirkung kommen. Man würde beispielsweise einen bestimmten Gedanken auf eine bestimmte neuronale Aktivität zurückführen. Doch wenn Neurowissenschaftler von diesem Zurückführen sprechen, meinen sie nicht das zeitliche oder ursächliche Zurückführen. Stattdessen meinen sie ein konstitutives: Erstes besteht aus dem zweiten. Der Gedanke besteht also aus neuronaler Aktivität. Im Gegensatz zu kausalen Beziehungen sind konstitutive Beziehungen immer synchron. Also sind bestimmte neuronale Strukturen aktiv während ein bestimmter Gedankenprozess verläuft. Eine zeitliche Reihenfolge zwischen Gehirn- und Gedankenprozessen gibt es also nicht; sie kommen immer zur selben Zeit vor.

Trotzdem ist es schwierig anhand der Gehirnaktivität zu sagen, was jemand gerade denkt oder vorhat. Und das obwohl wir mittlerweile ziemlich gut vorhersagen können, welche Hirnareale aktiviert werden, wenn man sich so oder so verhält, zum Beispiel mit dem Daumen wackelt. Das nennt man „forward inference“. Besonders wenn es um sensomotorische Prozesse geht, also Bewegungen und Sinneswahrnehmungen, können wir die daran beteiligten Hirnregionen gut vorhersagen. Doch die so genannte „reverse inference“, also die Vorhersage von Gedanken und Verhalten auf Grund von neuronalen Bildgebungsdaten, gelingt uns nicht so gut. Denn die meisten Hirnareale sind in vielerlei Prozessen aktiv. Beispielsweise könnte ein Areal, das mit der Bewegung des Daumens zu tun hat, auch aktiviert werden, während man ein mathematisches Problem löst. Denn die Finger können zum Rechnen genutzt werden. Das macht es sehr schwierig Vorhersagen anhand von Bildgebungsdaten zu treffen.

Die Frage nach der zeitlichen Reihenfolge zwischen neuronaler Aktivität und Gedanken kann man so also nicht beantworten. Denn die Beziehung zwischen Gehirn- und Gedankenprozessen kann man nicht als eine kausale verstehen. Vielmehr handelt es sich um eine konstitutive Beziehung: Gedanken bestehen aus Gehirnprozessen.

Aufgezeichnet von Nicole Paschek

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