Frage an das Gehirn

Aus einem einmaligen Ereignis lernen?

Fragesteller/in: Michael Mörike via E-Mail

Veröffentlicht: 26.07.2013

Wie lernt man bei einmaligen Erlebnissen durch Verallgemeinerung? Einen Unfall zum Beispiel erlebe ich ja nur einmal. Also müsste ich aus einem nur einmal vorkommenden Vorgang Schlüsse ziehen, verallgemeinern, lernen. Wie geht das?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Prof. Dr. Alexander Renkl, Pädagogische und Entwicklungspsychologie, Albert-​Ludwigs-​Universität Freiburg:

Zunächst einmal: Ganz so einzigartig dürfte die Unfall-​Erfahrung nicht sein. Der eigene Unfall kann durchaus ein singuläres Ereignis sein, aber ein Unfall an sich ist ein generelles Konzept und somit nicht einmalig: Man ist ja schon so manchen Unfällen begegnet, in der realen Welt oder in der fiktiven Welt. Und so kann man das eigene, hoffentlich einmalige, Erlebnis auch in ein gewisses Schema einsortieren, also in eine Schublade stecken. Typischerweise wird zudem nach ähnlichen Fällen gesucht und man schaut dann nach Übereinstimmungen. Dieses analoge Denken hilft, etwas über den eigenen Unfall zu lernen.

Wenn man aber keine Übereinstimmungen, kein Analogon, findet, dann sucht man nach einer eigenen Erklärung. Statt analogem Denken hilft nun also das erklärungsbasierte Lernen weiter. Bei dem Unfall-​Beispiel überlegt man sich etwa, was genau passiert ist und wie man das in sein allgemeines Wissen über Unfälle einordnen kann. Dies kann komplex werden, und man versucht dann zu trennen, was wichtig und was unwichtig ist. Wenn man herausgefunden hat, was der Kern der Sache war und was ein irrelevantes Detail, dann zieht man die entsprechenden Schlüsse.

Beim erklärungsbasierten Lernen geht man also eher deduktiv vor, das heißt vom Generellen zum Einzelnen: Vor dem Hintergrund seiner „Alltagstheorien“ und seines Wissens über den jeweiligen Bereich erklärt man sich ein einzelnes Ereignis. Im Fall des analogen Denkens sucht man das Gemeinsame von zwei Einzelfällen und schließt so auf das Allgemeine; hier hat man also ein induktives Vorgehen, vom Einzelnen zum Generellen.

Hinzu kommt: Das Verstehen und Lernen hängt auch vom Selbstkonzept ab. Jemand, der sich als hervorragenden Autofahrer ansieht und einen Autounfall hat, der wird den Fehler weniger bei sich suchen, sondern eher bei anderen oder im Außen. Diese Brille, mit der man auf den Vorfall schaut, muss aber gar nicht so sehr individuell sein. Sie kann auch von einem Beruf her kommen und so die Perspektive bestimmen. Ein Arzt würde wohl anders nach einer Erklärung für einen Unfall suchen als ein Polizist.

Wie sehr das Selbstkonzept wirkt, zeigt sich in der Lernforschung zum Beispiel besonders gut bei den MINT-​Schulfächern, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik: Selbst wenn Mädchen und Jungen durchaus gleich gute Leistung haben, so fühlen sich die Mädchen doch weniger gut in diesen Fächern als die Jungs. Wenn die Mädchen eine gute Note bekommen, denken sie sich eher: „Ich hatte einfach Glück und die Aufgaben waren leicht.“ Und wenn die Note mal nicht so gut ist, dann denken sie sich: „Ist ja klar. Immerhin sind wir Mädchen nicht so gut in Mathe.“ Ein Junge aber denkt sich über eine schlechte Note: „Naja, dann war das halt Pech.“

Übertragen auf das Beispiel mit dem Unfall könnte man zum Beispiel annehmen: Lag es an mir, dass es zu dem Unfall kam, oder war es einfach eine blöde Situation? Aus beidem kann man etwas lernen.

Aufgezeichnet von Franziska Badenschier

Kern

Kern/-/nucleus

Der Kern ist in einer Zelle der Zellkern, der unter anderem die Chromosomen enthält. Im Nervensystem ist der Kern eine Ansammlung von Zellkörpern – im zentralen Nervensystem als graue Masse, ansonsten als Ganglien bezeichnet.

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